Grossüberbauung wird zum Scherbenhaufen
22.08.2025 SissachNach neuen Vorgaben der Behörden verzichtet Versicherer auf das Bauprojekt beim Bahnhof
Der «Rösslihof» sollte eines der wichtigsten Entwicklungsprojekte beim Sissacher Bahnhof werden. Jetzt aber hat die Helvetia Versicherung als Investorin die Nase voll. Nachdem ...
Nach neuen Vorgaben der Behörden verzichtet Versicherer auf das Bauprojekt beim Bahnhof
Der «Rösslihof» sollte eines der wichtigsten Entwicklungsprojekte beim Sissacher Bahnhof werden. Jetzt aber hat die Helvetia Versicherung als Investorin die Nase voll. Nachdem kantonale Stellen im laufenden Verfahren neue Spielregeln aufstellen wollten, hat die Helvetia das Projekt auf dem Tobler-Areal eingestellt.
Christian Horisberger
45 Mietwohnungen, Flächen für stilles Gewerbe, ein begrünter Innenhof, womöglich eine Beiz sowie ein turmähnliches höheres Gebäude als Ausrufezeichen: Mit diesen Eckwerten hatte die Versicherung Helvetia vor zweieinhalb Jahren den Entwurf für die Überbauung «Rösslihof» auf dem früheren Tobler- beziehungsweise Six-Madun-Areal unweit des Sissacher Bahnhofs präsentiert. Der Neubau sollte den alten Industrie- und Bürokomplex ersetzen.
Schon bald nach der Kür des Siegerprojekts aus der Feder des Basler Architekturbüros Harry Gugger Studio sickerte durch, dass die geplanten 28 Meter Höhe des «Turms» sowie die Fassadengestaltung von kantonalen Stellen, namentlich der Denkmalund Heimatschutzkommission (DHK) sowie der Arealbaukommission (ABK), bemängelt würden. Von involvierten Parteien hiess es dazu auf Nachfrage mehrfach, dass man sich im Gespräch befinde.
Diese Gespräche sind jetzt eingestellt worden. Endgültig: In einem am Mittwochabend versandten Brief teilt die Helvetia Versicherung dem Baselbieter Kantonsplaner Thomas Waltert und dem Präsidenten der DHK, Markus Zentner, mit, dass sie «entschieden hat, die Projektentwicklung ‹Rösslihof› nicht weiterzuführen». Eine Kopie des Briefs ging unter anderem an die Gemeinde und die direkten Nachbarn, zu denen auch die Schaub Medien AG, welche die «Volksstimme» herausgibt, gehört. Der Entscheid sei nach eingehender Prüfung der aktuellen Ausgangslage gefallen, wobei die geplante Fusion der Helvetia mit der Baloise «absolut keine Rolle» gespielt habe, versichert Marcus Buess, Projektmanager bei Helvetia, auf Anfrage der «Volksstimme».
Vielmehr scheinen während des laufenden Spiels die Regeln geändert worden zu sein. So jedenfalls kann die Schilderung der Ereignisse, die zum Abbruch der Übung führten, interpretiert werden. Denn eigentlich schienen alle Hürden für den «Rösslihof» aus dem Weg geräumt zu sein: Nach der Darstellung der Versicherung ist das Projekt unter Einbezug von Gemeinde und kantonalen Fachstellen entwickelt worden und die Rückmeldungen aus der Bevölkerung seien überwiegend positiv ausgefallen, schreibt sie. Die grosse Überbauung sei als ortsverträglich und sorgfältig abgestimmt wahrgenommen worden.
Sieben anstatt neun Stockwerke
In einem offenen Dialog mit Gemeinde, Kanton und dessen Fachstellen seien Rückmeldungen zu Höhenentwicklung, Gebäudevolumen, gestalterischer Ausformulierung, Erschliessung oder zum Umgang mit dem historischen Bestand fachlich diskutiert, Verbesserungen aufgenommen und sorgfältig in die Projektplanung eingearbeitet worden, heisst es im Brief weiter. Das bedeutet unter anderem, dass der «Turm» um zwei auf sieben Stockwerke reduziert, entlang der Bahnhofstrasse zugunsten der Durchlässigkeit und Durchwegung Öffnungen zum Hof eingefügt und die Längsfassade zum Bahnhof hin durch eine Staffelung mit Vor- und Rücksprüngen sanfter gestaltet wurde, wie Buess präzisiert. Des Weiteren sei die Umgebungsgestaltung «als Übergang zur Bahnhofsituation weiter zoniert worden, um ein harmonischeres Gesamtgefüge zu erhalten.
«Vor diesem Hintergrund überraschten Helvetia die in den jüngsten Gesprächen mit den kantonalen Stellen im Mai und Juni geäusserten erneuten Forderungen – insbesondere zur grundsätzlichen Körnigkeit und Höhenstaffelung der geplanten Bebauung.» Konkret verlangten die DHK und die ABK gemäss Projektleiter Buess, in einem partizipativen Prozess mit allen Beteiligten, dem so genannten Workshopverfahren, die strittigen Punkte zu überarbeiten. «Das hätte bedeuten können: Zurück auf Feld 1 – also zur Phase vor dem Studienwettbewerb.» Dabei habe Helvetia bereits im Hinblick auf die Ausschreibung ihres städtebaulichen Wettbewerbs von 2022, der den «Rösslihof» als Sieger hervorbrachte, zusammen mit der zuständigen Firma für die Raumplanung sowie den involvierten Ämtern und den massgebenden Stellen das Studienprogramm intensiv abgeklärt und verfasst. Auch die weitere Projektentwicklung nach dem Wettbewerb fand laut Projektleiter Buess in einem stark partizipativen Prozess statt.
In diesem Kontext sei «nicht verständlich, dass diese Grundsatzfragen mit substanziellen Auswirkungen auf das Gesamtprojekt nun erneut zur Diskussion gestellt werden», schreibt Helvetia. «Für uns kam nicht infrage, dass wir den Perimeter aufmachen und das gesamte Bahnhofsgebiet noch einmal mitdenken, wie es gefordert wurde», präzisiert Marcus Buess.
Die erneute Überarbeitung des Projekts, insbesondere auch die Einbettung in einen grösseren ortsbaulichen Massstab, würde erhebliche Planungsaufwände, weitere Verzögerungen, eine Verteuerung der Mietpreise und damit zusätzliche wirtschaftliche Risiken nach sich ziehen, heisst es im Brief der Versicherung. Diese auf sich zu nehmen, ist sie nicht bereit: Sie werde keine weiteren Planungsaufwendungen tätigen und die Entwicklung per sofort einstellen.
Über Geld spricht die Helvetia Versicherung im Zusammenhang mit dem «Rösslihof» nicht. Weder zum Kaufpreis des Areals, das sie 2016 erworben hatte, noch zum geplanten Investitionsvolumen und den aufgelaufenen Wettbewerbs- und Planungskosten werden Angaben gemacht. Klar ist nur: Das Geld für die Projektentwicklung kann die Helvetia abschreiben.
Buess hütet sich vor Schuldzuweisungen: «Bei all unseren Projekten versuchen wir, eine tragfähige Lösung im Einklang mit den Rahmenbedingungen zu finden.» Als Investor müsse man aber mit Verzögerungen und Änderungen rechnen, ein gewisses Risiko gehe man ein. «Es ist sicher nicht schön, wenn so etwas passiert, wir sind aber auf solche Fälle vorbereitet.»
Verkauf ist nur eine Option
Gleichzeitig mit dem Ausstieg aus dem Projekt prüft die Versicherung die Möglichkeiten für das Areal. Als Option ist im Brief, der als Kopie auch an die Gemeinde Sissach und den Baselbieter Baudirektor Isaac Reber ging, von einem möglichen Verkauf die Rede. Als weitere Szenarien nennt der Projektleiter auf Nachfrage der «Volksstimme» einen Studienauftrag für ein alternatives Projekt, eine zonenkonforme gewerbliche Nutzung beziehungsweise Bebauung oder eine Sanierung der bestehenden Gewerbebauten, wobei Helvetia letzteres längst ausgeschlossen habe. Nicht infrage kommt für die Versicherung der Bau und anschliessende Verkauf von Stockwerkeigentum. Darüber, welche Option zum Zug kommt, werde Helvetia zu gegebener Zeit orientieren.
Und falls der Kanton aufgrund des Scherbenhaufens auf seinen Entscheid zurückkommt und auf das Workshopverfahren verzichtet? «Sollte das Projekt durch den Verzicht auf die Forderungen wieder wirtschaftlich rentabel sein, würden wir die Lage wieder neu betrachten», erklärt Marcus Buess, denn Helvetia sei vom Projekt «Rösslihof» nach wie vor überzeugt und möchte es umsetzen.
Kantonsplaner: «Keine Regeln geändert»
ch. «Es erschliesst sich uns nicht, was die Helvetia zu diesem radikalen Schritt bewogen hat»: Der Baselbieter Kantonsplaner Thomas Waltert zeigt sich über den Rückzug des Helvetia-Projekts sehr überrascht. Es sei niemals die Rede davon gewesen, dass das Projekt zurück auf Feld eins müsse, stellt er klar. Es seien auch keine Regeln geändert worden. Vielmehr habe man sich in einem üblichen Prozess befunden, bei dem neue Bauregeln für einen Quartierplan entwickelt werden.
Zum neu ins Spiel gebrachten «Workshop-Verfahren» sagt Waltert: Dass nach dem Studienauftrag als erstem Schritt zur Weiterentwicklung weitere Anspruchsgruppen beigezogen werden, sei «ein ganz normaler Prozess». In einem weiteren Schritt habe man der Investorin nun angeboten, den «Rösslihof» mit wesentlichen Akteuren – «zwei, drei entscheidenden Fachstellen und Experten» – ergebnisoffen zu betrachten, um dessen Genehmigungsfähigkeit zu erhöhen. Für wenige Punkte hätten genaue Regeln gefunden werden sollen: zu Gebäudehöhe, -dichte, -volumen, zur Ausgestaltung der Überbauung im Kontext zum geschützten Ortsbild und zu mehreren schützenswerten Objekten im Umfeld – «das ist überhaupt nicht aussergewöhnlich». «Wenn aus dieser Botschaft ein Risiko herausgelesen wird, so überrascht mich das sehr», sagt Waltert: «Entweder, ist es uns nicht gelungen, klar zu kommunizieren, oder es gibt andere Gründe für den Abbruch.»
Der Kantonsplaner stellt klar: Die involvierten Stellen hätten nicht die Kompetenz, ein Projekt zu stoppen: «Die Helvetia hätte immer noch die Möglichkeit, zu sagen: ‹Wir sind vom Projekt überzeugt und reichen in Absprache mit der Gemeinde unseren Quartiperplan auf eigene Faust ein.› Das wäre eine Alternative zum Projektabbruch gewesen.»
Thomas Waltert will die Inhalte des Briefs der Helvetia in den von der Versicherung angeschriebenen Kommissionen diskutieren und deren Haltung in einer schriftlichen Antwort darlegen.
Gemeindepräsident: Chance verpasst
ch. Die Sissacher Bau- und Planungskommission und der Gemeinderat hatten am ursprüngliche Projekt «Rösslihof» Gefallen gefunden und es unterstützt. «Wir hatten uns damit etwas getraut», sagt Peter Buser. Doch der Mut zu etwas Aussergewöhnlichem – einer Überbauung mit einem hohen Gebäude als Blickfang – ist nicht belohnt worden. Entsprechend enttäuscht reagierte der Sissacher Gemeindepräsident gestern auf den Entscheid der Helvetia, die Planung einzustellen: «Damit wurde eine Chance für Sissach vertan.»
Nicht nur hätte sich das Bild von Sissach von der Bahnhofstrasse her durch die Überbauung verändert, sondern auch das Wohnungsangebot. Anstatt weiterer teurer Eigentumswohnungen sollten bedarfsgerecht kleinere und mittlere Mietwohnungen erstellt werden, so Buser: «Das war genau das richtige Projekt für das Dorf und diesen Standort.»
Als Präsident der kommunalen Bau- und Planungskommission war Buser früh in den Planungs- sowie in den weiteren Entwicklungsprozess involviert. Er attestiert der Helvetia, von Anfang an alle erforderlichen Abklärungen getroffen zu haben und in der Weiterentwicklung des Projekts Kompromisse eingegangen zu sein, ohne den Charakter der Überbauung aufzugeben. Für das vom Kanton ins Spiel gebrachte «Workshop-Verfahren» zeigt Buser wenig Verständnis: «Ich hatte das Gefühl, dass von Stellen des Kantons gewisse Parameter plötzlich anders interpretiert werden.»
An eine Rettung des «Rösslihofs» glaubt Buser – Stand heute – nicht. Dafür sei zu viel Geschirr zerschlagen worden und es seien zu viele Vermittlungsversuche – auch seitens der Gemeinde – gescheitert. Und nun? «Mit dieser Ausgangslage wird es schwierig, etwas zu entwickeln», sagt er. Es habe sich jetzt gezeigt, was nicht geht. Für einen möglichen Käufer des Gewerbegrundstücks, das die Helvetia zu einem hohen Preis erworben habe, werde es nicht leichter, das Gebiet mit den Parametern, die nun gesetzt worden seien, profitabel zu entwickeln.