Gotteshäuser und Wolkenkratzer
02.05.2025 SissachDie Kirche ist 500 Jahre alt und sorgt sich um ihre Zukunft
Nicht nur die Einwohnergemeinde jubiliert in diesem Jahr. Auch die Kirche St. Jakob, anfänglich noch ein katholisches Gotteshaus, feiert. Sie steht vor grossen Herausforderungen. Pfarrer Matthias Plattner schildert seine Gedanken zur Frage, wie die Kirche in die Zukunft zu führen ist.
Pfarrer Matthias Plattner
Vor 40 Jahren weilte ich als Student im Praktikum in Diegten. Der damalige Ortspfarrer liess mich wissen, in 20 Jahren werde es unsere Volkskirche so nicht mehr geben. Begriffen habe ich nicht, was er damit sagen wollte. Es gibt sie noch immer.
Gerne lade ich die Leserinnen und Leser der «Volksstimme» zu einer «tour d’horizon» ein zu Wurzeln und Grundlagen unseres Kirche-Seins, einem Blick in die Geschichte und die globale und regionale Kirchenentwicklung. Zukunft braucht Herkunft. Es gilt, Vergangenheit und Gegenwart zu würdigen, um Aussagen über Künftiges leisten zu können.
Unser Fundament ist das Evangelium, die gute Nachricht von Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Das Bekenntnis zum Messias aus Nazareth ist uns Anfang, Mitte und Ende. Die im Neuen Testament gesammelten Erfahrungen der ersten Christen berichten davon. Die Heilige Schrift verbindet seit 1750 Jahren Konfessionen rings um den Erdball in all ihrer Vielfalt und Eigenheit von Kultur und Tradition. Unser Glaube an Jesus als Messias und Friedensstifter bleibt dabei ein Geschenk.
Kirchen im Süden wachsen
Die weltweite Kirche: Tief in uns ist sie verankert, Mitteleuropa sei der Nabel der Welt. Unsinn. Das Christentum ist ein «Global Player», eine international lebendige, vernetzte Glaubens-, Werte- und Menschengemeinschaft. Trotz Nähe der katholischen Kirche zu Italien, der evangelischen zu Deutschland, der reformierten zu Zürich und Genf. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat prägt in Europa die Form des Kirche-Seins: So unterscheidet man freie Gemeinden (Vereine) von Volkskirchen (wie wir es noch sind) bzw. von Staatskirchen (wie aktuell in Russland).
Die Kirchen im globalen Süden wachsen stark. Das Christentum wird weltweit jünger, weiblicher und ärmer. Die christlichen Nationen der Zukunft liegen in Afrika. Das Christentum geht nicht unter. Es wächst und gedeiht, in neuem Gewand und woanders. Wer mit Christinnen und Christen auch aus Indonesien, Südamerika und Asien ins Gespräch kommt, trifft auf begeisterte Leute in oft boomenden Gemeinden.
Autonomie und ein neues Tabu
Megatrends: Megatrend bedeutet Wandel, der massive Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Technik hat. Beispiele sind Individualisierung, Globalisierung, Digitalisierung, Überalterung, Urbanisierung und Klimawandel. Das spüren neben Parteien, Gewerkschaften und Vereinen auch wir Volks- und Freikirchen. Vereinzelung und Möglichkeit der Wahl führen dazu, dass Menschen sich nicht längerfristig einer Gruppe verpflichten möchten.
Auch wollen sie mit ihren Wertvorstellungen autonom bleiben. Religionsausübung, also das Gespräch über persönlichen Glauben, wurde und wird in Europa zunehmend zum Tabu, so schwierig wie das Sprechen über Sexualität oder Tod. Sich als Christin zum Glauben zu bekennen gleicht bald einem «Coming-out».
Bewahren und Erneuern
Der Liestaler Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler hat einst gesagt: «Die Kirche ist eine konservative Macht; dessen hat sie sich von jeher gerühmt.» Das ist aber bloss die halbe Wahrheit. Kirchen waren Innovationstreiber für das öffentlich-politische und soziale Leben. Klöster haben Kenntnisse für Medizin und Landwirtschaft weiterentwickelt. Unser Föderalismus wäre ohne die Früchte der Reformation nie entstanden. Schulbildung ist durch reformierte Pfarrer initiiert worden. Altersheime und Spitäler waren konfessionelle Einrichtungen, lange bevor Staat und Städte diese übernommen haben.
Auch das Zivilstandswesen war früher Sache der Kirche. Dito die Flüchtlingsarbeit. Frauen bekamen in unserer reformierten Kirche gleiche Rechte, 20 Jahre vor der Allgemeinheit. Heimstätten wie der Leuenberg waren «Erfinder» der Erwachsenenbildung. Heute ist diese ein weltliches Riesengeschäft in der Gesellschaft. Gerade die reformierte Kirche lebte und lebt zwischen dem Bedürfnis, in Traditionen zu verharren, und ebenso, aufzubrechen, Neues und sich selbst neu zu erfinden: semper reformandum.
In Metropolen wie Frankfurt oder New York sieht man, wie die einst mächtigen Kirchtürme längst durch Hochhäuser und Wolkenkratzer übertrumpft worden sind. Auch das stolze Basler Münster kommt neben den Roche-Hochhäusern mickrig daher. Entsprechend hat die Ökonomie die Theologie als Königin der Wissenschaften längst abgelöst. Hat die Innovationskraft der Kirchen den liberalen Wohlfahrts-, Bildungs- und Sozialstaat so erfolgreich gepusht, dass deren Auftrag in der Welt erfüllt ist? Der Staat leistet – vermeintlich! – Vollversorgung für jedes «Bobo» und Risiko. Wozu braucht es da noch Glauben, Gemeinschaftssinn und Solidarität in einer Kirche, oder deren Innovationskraft?
Totgesagte leben länger
Ort der Kirche in der Gesellschaft: Jahrhundertelang stand eine Kirche mitten im Dorf. Das bildete ihre zentrale überragende Bedeutung für die Gemeinschaft ab. Kirchen- und Einwohnergemeinde waren eins. Heute stehen die Gebäude noch immer, aber Dorf bzw. Staat und Kirche sind getrennt – und die Kirche als Institution ist zunehmend marginalisiert und an den (Orts-)Rand gedrängt. In Städten wie Basel sind viele Kirchen längst verkauft und umgenutzt. Bei uns werden Pfarrhäuser ihrer Funktion enthoben. Kirchen werden folgen. Was tun, damit eine Kirche als Gebäude im Dorf erhalten bleibt? Sie ist ein Kulturdenkmal und für viele unabhängig ihrer Kirchenzugehörigkeit wichtig.
40 Jahre ist es her seit jener Bemerkung meines Vikariatspfarrers. Viele Kirchgemeinden blühen – trotz allem – nach wie vor. In Gelterkinden, Sissach, Liestal, auch in einzelnen Tälern herrscht reiches kirchliches Leben. Dutzende von Freiwillige jeden Alters engagieren sich im Verbund mit vielen Angestellten, oft fürs ganze Dorf. Kein Grund zum Jammern.
Nachchristliche Welt
Während unser Land auf 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zusteuert wird die Gesamtheit der in Kirchen organisierten Christen kleiner. Jahr für Jahr treten Menschen aus, weil die Kirche ihnen bedeutungs- oder wertlos erscheint. Oder sie mit dem Kirchen-Obolus ihre teure Krankenkasse bezahlen müssen.
Die Gestaltungskraft der ehemaligen Grosskirchen in einer nachchristlichen Welt schwindet. Kirchen überaltern schneller als die Gesellschaft. Auch damit sind wir «Trendsetter»! Unser Fachkräftemangel wächst rascher als woanders: Bald werden ein Drittel aller reformierten Pfarrämter auf dem Land verwaist sein. Das bietet auch Chancen für Neues.
Das Evangelium lässt sich wunderbar – verbindlich solidarisch – auch in kleineren Gemeinschaften und Hausgemeinden leben, wie damals im ersten Jahrhundert. Nur einzeln und als Single geht es nicht: Solo-Christentum ist ein Widerspruch in sich.
Zu erfülltem Christ- und Frohsein bedarf es wenig: Wer sich im Glauben an Jesus Christus daheim weiss, kennt dessen dreifache Antwort: Man möge Gott lieben, die Nächsten lieben und sich selbst, zu gleichen Teilen.
Das Geheimnis gelingenden Lebens
Matthias Plattner, geboren 1962, ist im Birsigtal aufgewachsen. Zunächst Primarlehrer, bildete er sich später zum reformierten Pfarrer weiter. Seit 32 Jahren im Amt, war er Kurortspfarrer in Lenzerheide, später Pfarrer in Bennwil, seit 2006 in Sissach. Als Kirchenrat ist er Mitglied der kantonalkirchlichen Exekutive und war von 2013 bis 2025 an den Reformen in der Baselbieter Kirche zuvorderst mitbeteiligt. Er hat die Fusion seiner Kirchgemeinde mit derjenigen von Wintersingen mit vorbereitet und feiert mit seiner Gemeinde aktuell den 500. Geburtstag der reformierten Kirche Sissach.
Er ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Söhnen, Mitbegründer der Schule Nova Sissach, FCB-Fan, engagiert sich als Rotarier und spielt gern Klavier.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Seit 17. Januar: Die Kulturkommission Sissach bringt im Rahmen des Jubiläumsjahres «Sissach2025» Vergangenheit und Gegenwart in einen Dialog. Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien des Theaterfotografen Ernst Rudin (70) gegenüber. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
Samstag, 3. Mai: Eröffnung des Erlebnispfads der Bürgergemeinde Sissach. Erweiterung des Waldspielplatzes Tännligarten. Beginn 11 Uhr.
Sonntag, 4. Mai: Sonderausstellung «100 Jahre Heimatmuseum Sissach»: «Chumm cho luege». «Kässeli-Beat» Wallmer zeigt seine Sammlung an Sparkassen. Dauerausstellung «Baselbieter Trachten», Waffensammlung, Posamenterstuhl in Betrieb. Geöffnet 11 bis 16 Uhr. Webvorführung von 13 bis 15 Uhr.
Sonntag, 4. Mai: «Auf den Spuren von Helene Bossert und Ueli Fausch», erste von zwei Führungen mit Eva Müller und Ruedi Epple. 10 Uhr. Treffpunkt: Sissach, Untere Fabrik, Allmendweg 35. Unkostenbeitrag. Teilnahme nur auf Voranmeldung an die E-Mail-Adresse mail@distl.ch.
Freitag, 16. Mai, bis Sonntag, 18. Mai: Jubiläumsgewerbeausstellung Mega. Freitag: 15.30 Eröffnung im Festzelt. Ganze Begegnungszone, beim Bahnhof und auf dem Postplatz, 135 Aussteller, 21 Verpflegungsstände, 7 Restaurants. Ausstellung Freitag 17 bis 22 Uhr, Samstag 10 bis 22 Uhr und Sonntag 10 bis 17 Uhr. Weitere Informationen unter www.mega-sissach.ch
Freitag,23.Mai: «Die Seidenstrassen und ihre fehlenden Teile im Humboldt Forum». Vortrag von Dr. Hinchi Kong, Leiter des ChinaHouse. Der Anlass ist Teil des Jahresthemas «Die Sissacherin Ursula Graf und ihre Seidenstrassen.» Chinahouse, Hauptstrasse 120. 18.30 bis 21.00 Uhr. Mit Nachtessen. Eintritt 40 Franken.
Sonntag, 1. Juni: Sonderausstellung «100 Jahre Heimatmuseum Sissach»: «Chumm cho luege». «Kässeli-Beat» Wallmer zeigt seine Sammlung an Sparkassen. Dauerausstellung «Baselbieter Trachten», Waffensammlung, Posamenterstuhl in Betrieb. Geöffnet 11 bis 16 Uhr. Webvorführung von 13 bis 15 Uhr.