Glanz- und Schattenseiten des Verwöhnens
02.12.2025 SissachIn Ueli Mäders Gesprächsreihe kommt das Positive zu kurz
Beim Verwöhnen einer anderen Person steckt eine gute Absicht dahinter. Deshalb stellen wir die vermeintliche Tugend nur ungern infrage. An Ueli Mäders Gesprächsreihe mit Psychologe Jürg Frick und der ...
In Ueli Mäders Gesprächsreihe kommt das Positive zu kurz
Beim Verwöhnen einer anderen Person steckt eine gute Absicht dahinter. Deshalb stellen wir die vermeintliche Tugend nur ungern infrage. An Ueli Mäders Gesprächsreihe mit Psychologe Jürg Frick und der Coiffeuse Anna Tschannen hingegen kam vor allem das Negative zur Sprache.
Jürg Gohl
Am liebsten hätten ihr alle Gäste im Sissacher «Cheesmeyer» den Kopf hingehalten. Anna Tschannen arbeitet als Coiffeuse jeweils am Freitag in der Offenen-Elisabethen-Kirche in Basel und schneidet dort Mittellosen, Drogenabhängigen und Randständigen, die sich nie einen normalen Coiffeur leisten könnten, die Haare. Zudem hat die Maskenbildnerin und Künstlerin einzelne dieser Begegnungen in feinfühligen Kurzgeschichten festgehalten, von denen sie zum Einstieg ins November-Gespräch mit Soziologe Ueli Mäder mit dem Titel «Droge Verwöhnen» gleich zwei vorträgt.
Die Leute, die vor ihr im Stuhl sitzen, bezeichnet sie als Personen, die jeden Tag um ihre eigene Würde kämpfen. Schnell aber rückt die dunklere Seite des titelgebenden Stichworts in den Vordergrund.
Der ehemalige Pädagogik-Professor Jürg Frick, der mit seinem Buch über die «Droge Verwöhnen» für Aufsehen gesorgt hat, rückt in den Mittelpunkt. «Wir haben uns einen verwöhnenden Erziehungsstil angewöhnt, räumen unseren Kindern sämtliche Gefahren aus dem Weg und erweisen ihnen damit einen Bärendienst», setzt er einen Gegenpol, und schon bald dreht sich der Abend grossmehrheitlich um die Schattenseiten des Verwöhnens.
«Taxi Mama» als Symbol
Die Liste an Beispielen, wie wir vor allem unsere Kinder verwöhnen, wird im Verlauf des Abends immer länger: Das «Taxi Mama» – dieser Begriff wird an diesem Abend zum Symbol für das Verwöhnen der negativen Art – fährt das Kind zur Schule. Damit ihm auf dem Weg nichts zustösst, nehmen wir in Kauf, andere Kinder zu gefährden. Daran macht Frick auch fest, dass wir uns immer mehr zu einer «Ich-AG» entwickeln. Er verpasst dabei auch die Chance auf eine Globalkritik an den Lohnexzessen nicht: «Wenn das höchste Einkommen des Landes den Löhnen von 165 Primarlehrerinnen und -lehrern entspricht, einem der wichtigsten Berufe, dann liegt bei uns vieles im Argen», sagt er.
Um in der Schule mithalten zu können, würden heute zwei von fünf Kindern in der Schweiz Förderunterricht beziehen. Und dieses Fokussieren komme schliesslich auch in der kürzlich publizierten und beängstigenden Zahl zum Ausdruck, dass Schweizer Frauen im Durchschnitt noch 1,29 Kinder gebären.
«Wir kaufen ihnen 200 Franken teure Fussballschuhe», fügt Gesprächsleiter Ueli Mäder schliesslich hinzu.
Und alle, auch das Publikum, sind sich einig, dass ein Erziehungsstil, in dem die Kinder zusehends verwöhnt werden, die Gefahr birgt, dass sich die Kinder die Widerstandskraft, die sie später in der Ausbildung oder im Berufs- und Erwachsenenleben benötigen, nicht mehr aneignen können. Das «Hinschmeissen» werde immer öfter zur bequemen Lösung von Problemen.
Das sind düstere Aussichten. Auch Anna Tschannen, der an diesem Abend eigentlich die Rolle als «Anwältin des Verwöhnens» zugedacht war, erzählt freimütig, wie sie selber als zweifache Mutter beim Erziehen immer wieder in Konflikte gerät. Am Schluss hätten sich wohl viele vor ihr in den Coiffeurstuhl gesetzt – nicht um sich den Kopf waschen, sondern um sich verwöhnen zu lassen.
Nächster Anlass in der Serie «Für eine soziale und ökologische Wende»: «Natur mit KI retten?», Donnerstag, 18. Dezember, 19 Uhr. Gäste: John-Dylan Haynes (Psychologe, Neurowissenschaftler, Hirnforscher, Charité Berlin) und Danielle Kaufmann (Juristin, Datenschutzbeauftragte Basel-Stadt).

