Gibt es etwas Grösseres als Sissach?
25.07.2025 SissachDas ist Sissach (Teil 29) | Über die Vorzüge einer überhöhten Selbstwahrnehmung
Politisches und kulturelles Zentrum mit einer Bedeutung weit (weit!) über das Dorf hinaus: Sissach zeigt, was mit einem gesunden Selbstvertrauen alles möglich ...
Das ist Sissach (Teil 29) | Über die Vorzüge einer überhöhten Selbstwahrnehmung
Politisches und kulturelles Zentrum mit einer Bedeutung weit (weit!) über das Dorf hinaus: Sissach zeigt, was mit einem gesunden Selbstvertrauen alles möglich ist.
Philipp Loser
Unter einem Bundesrat macht es Sissach nicht. «Die Bundesfeier wird riesig; wenn alles klappt, hält ein Bundesrat die Ansprache.» Das sagte Gemeinderat Robert Bösiger noch im Februar. «Bobby» ist mein ehemaliger Chef und der Grund, warum ich im Journalismus überhaupt anfangen durfte. Er möge mir darum die Frotzelei nachsehen.
Denn nächste Woche wird nicht Karin Keller-Sutter in Sissach auftreten, nicht Albert Rösti oder Beat Jans – ja, nicht einmal Guy Parmelin. Stattdessen wird Rita Famos, die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, die Festansprache halten. Nichts gegen Famos – das wird sicher eine sehr interessante Ansprache – aber eine Bundesrätin ist sie halt nicht.
Peinlich?
Ach was. Immer noch besser als die Gelterkinder, wo zum ersten Mal seit 30 Jahren überhaupt keine Bundesfeier stattfindet. Das Dorf mit fast gleich vielen Einwohnern wie Sissach hat keinen Verein gefunden, der das Fest organisieren will. Stattdessen gibt es ein Höhenfeuer (ohne Bundesrat, ohne Rita Famos, ohne Cervelats). In der «Basler Zeitung» musste Stefan Degen, ehemaliger Land- und Gemeinderat in Gelterkinden, zugeben, dass in Gelterkinden die Gemeinschaft nicht so sehr gepflegt werde wie im nahen Sissach. «Hier geniesst man eher die Ruhe nach dem Feierabend. Insofern ist die Absage der Bundesfeier nur pragmatisch.»
Ein Gemeinderat wünscht sich für sein Dorf einen Bundesrat (vergeblich, aber immerhin), weil das gross wäre und offensichtlich als passend erachtet wird. Ein anderer (ehemaliger) Gemeinderat erklärt sein Dorf zur offiziellen Schlafgemeinde, wo man abends das Elektroauto in der Garage des Einfamilienhaus einstöpselt, danach die Türe abschliesst (doppelt) und die Tagesschau einschaltet.
Das ist natürlich gemein. Und für eine so vernichtende Beurteilung von Gelterkinden kenne ich das Dorf schlicht zu wenig (schöner neuer Tennisplatz, übrigens!). Aber für Sissach steht das Beispiel mit dem Fast-Bundesrat schon exemplarisch.
Sissacherinnen und Sissachern gefällt es in Sissach. Es gefällt ihnen überdurchschnittlich gut hier. Und darum messen sie ihrem Dorf gerne eine Bedeutung bei, die über die üblichen und bekannten Zentrumsfunktionen hinausreicht. Eine Grösse, die nichts mit der tatsächlichen Grösse von Sissach zu tun hat.
Beispiele?
Gibt es unzählige, viele davon im Brauchtumsbereich. Zum Beispiel während der Fasnacht. Nicht nur dauert hier die Fasnacht einen Tag länger als überall sonst (und sind die Beizen voller als in Gelterkinden …) – Sissach masst sich auch an, einen eigenen Morgenstreich abzuhalten. 17 Bahnminuten vom Unesco-Weltkulturerbe-«Morgestraich» entfernt glaubt Sissach (glauben seine Fasnächtlerinnen und Fasnächtler) allen Ernstes, einen mindestens so eindrücklichen Umzug wie die steif-arroganten Basler «Hochnas-Fasnächtler» zu veranstalten. Selbst wenn nur eine Clique mitmacht (die wohl auch lieber in Basel wäre … hehe).
Mindestens so anmassend: Dass man am Sonntagabend, vor dem eigenen «Morgenstreichli», auch noch die zweite regionale Fasnachts-Spezialität kopiert und mit brennenden Fackeln und Feuerwagen durchs Dorf spaziert. Das braucht alles einen rechten Magen, wie man hier so schön sagt.
Man sieht es am Banntag, der mindestens so archaisch und laut ist wie jener in Liestal, man sieht es am rituellen Hochleben des «Cheesmeyer-Hauses» (das erste Warenhaus im Baselbiet. Vielleicht der Schweiz. Vielleicht sogar überhaupt?), man sieht es in der Wahrnehmung der nationalen Wahrnehmung. In einem der vergangenen Beiträge für diese Serien stand der schöne Satz in der «Volksstimme»: «Gäbe es eine Statistik für die Anzahl Schlagzeilen pro Einwohnerin und Einwohner, wäre Sissach wohl weit vorne zu finden.»
Und man sieht es in der Politik, die hier so zelebriert wird wie kaum irgendwo im Oberbaselbiet. Es gab eine Zeit, da kamen (gefühlt) alle entscheidenden Baselbieter Politiker aus Sissach. Der viel zu früh verstorbene Urs Wüthrich, Isaac Reber, natürlich Maya Graf, ehemals die höchste Schweizerin, heute Ständerätin. Laura Grazioli machte Schlagzeilen, nicht nur schmeichelhafte, SVP-Nationalrat Thomas Matter ist ein halber Sissacher und Bundesrat Beat Jans machte hier seine Lehre (und kommt trotzdem nicht zur Bundesfeier).
Je lebendiger eine Gemeinde (je diverser), desto lebendiger ihr Vereinsleben, ihr Brauchtum und ihre Politik. Bedingt sich natürlich gegenseitig (auch nicht ganz klar, was zuerst kommt). Tatsache aber ist: In Sissach ist es wirklich so. Lebendige Vereine, lebendige Politik, lebendige Gemeinschaft.
Faktoren, warum das so ist im Herzen des Oberbaselbiets (eine Anmassung auch das), gibt es einige. Die Lage, die Geschichte (800 Jahre!), die verkehrstechnische Anbindung, die Sonnenstunden (warum nicht). Und: die «Volksstimme».
Es geht manchmal vergessen, wie aussergewöhnlich es heute ist, eine eigene Zeitung zu haben. Es gibt in der Schweiz wahrscheinlich keine andere Gemeinde in einer vergleichbaren Grösse mit einer ähnlich seriösen Zeitung. Vielleicht liegt darin der wahre Grund für die gelegentliche Selbstüberhöhung der eigenen Bedeutung: Um etwas zu überhöhen, muss es gesehen werden.
Um sich zu überhöhen, muss man sich zuerst selber wahrnehmen. Man braucht einen Spiegel. Ein Gegenüber, das einem die Wahrheit sagt – und einen manchmal etwas anflunkert. Es gibt auch Spiegel, die einen vorteilhafter wirken lassen. Es braucht vor allem ein Gegenüber, das sonst nur wenig anderes sieht, für das man das unbestrittene Zentrum ist. So wie Sissach das unbestrittene Zentrum für die «Volksstimme» ist.
Das ist der 29. Teil einer Serie, die sich ausschliesslich um Sissach dreht. Um die Schönheit des Dorfs, seine Geschichte, seine Aussergewöhnlichkeit. Der 29. Teil! Und es ist bei weitem nicht der letzte. Mindestens 40 Mal soll hier die lange und grosse Geschichte des schönsten und wichtigsten Dorfs aufgeschrieben werden.
Den Abschlussessay wird übrigens ein Bundesrat schreiben (sagt «ämmel» Bobby Bösiger). Darunter macht es Sissach nicht.
Zur Person
vs. Philipp Loser (45) ist in Buckten aufgewachsen und begann bei der «Volksstimme» seine eindrückliche Karriere im Journalismus. Diese führte ihn über die «Basler Zeitung» und die «Tages-Woche» 2014 zum Zürcher «Tages-Anzeiger». Dort arbeitet er als Inland-Redaktor und publiziert jeden Samstag im «Magazin» jener Zeitung seine viel beachtete Kolumne. Der mehrfach preisgekrönte Journalist lebt mit seiner Familie in Basel.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Seit 17. Januar: Die Kulturkommission Sissach bringt im Rahmen des Jubiläumsjahres «Sissach2025» Vergangenheit und Gegenwart in einen Dialog. Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien des Theaterfotografen Ernst Rudin (70) gegenüber. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
Freitag, 1. August: Nationalfeiertag. Ab 15 Uhr musikalische Unterhaltung mit der Farnsburger Blasmusik, dem Männerchor Liederkranz und der Alphorngruppe Magden. 19 Uhr Festansprache von Rita Famos, Präsidentin der Evangelischreformierten Kirche Schweiz. Ab 19.30 Uhr Abendunterhaltung mit «The Pelicans» und Ira May. Vor dem «Cheesmeyer».