130 000 Kilometer gefahren, etwa 30 Gasflaschen verbraucht, vier Bremsscheiben ausgetauscht, fünf Beulen ins Blech geschlagen, ein Abwasserrohr verloren, einen Wasserhahn abgerissen, drei Wassertankdeckel liegen gelassen, eine Wasserpumpe geschlissen, jedes hinterletzte Dokument nach Diebstahl neu ausstellen müssen, aus dem Camper gefallen und Fuss gebrochen. Das und einiges mehr ist sozusagen die Sollseite nach fünf Jahren Leben im Camper.

Die Habenseite ist nicht so einfach zu beziffern. Sie besteht vor allem aus intensiv gelebter Zeit. Aus Monaten und Jahren, die randvoll sind mit Begegnungen, Erlebnissen, Erfahrungen und Glücksgefühlen.

Schon fünf Jahre? Höre ich manchmal ungläubig aus dem Bekanntenkreis, wenn wir auf mein Leben im Camper zu sprechen kommen. Ich persönlich weiss nicht, ob ich schon oder erst sagen soll. Unterwegs ticken die Uhren anders. Im besten Fall ticken sie gar nicht. Die Wochentage verlieren ihre Bedeutung, es ist einfach jeder Tag ein Sonntag. Die Jahreszeiten bestehen aus Sonne oder Regen. Die Festtage fallen nach Land und Leuten.

Die Tage haben keine feste Struktur mehr. Schlafen und Essen halten sich, zumindest bei mir, an keine festen Zeiten. Was ich unternehme, wohin ich fahre und mit wem ich mich treffe, wird spontan entschieden. Alles kann, nichts muss.

Das klingt total entspannt, und ist es meist auch. Aber die scheinbar grenzenlose freie Zeit, die einem bei dieser Lebensweise zur Verfügung steht, kann auch ermüdend sein und sogar stressen. So paradox es klingt, manchmal braucht man Ferien von den Ferien. Eine Auszeit von Dolce Vita. Die menschliche Natur braucht Routine. Die strengt das Hirn weniger an.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, dass ich nicht endlos aufnahmefähig bin, auch wenn die Landschaft noch so spektakulär, die Stadt noch so aufregend ist. Irgendwann schaltet der Kopf in den «Mir-völlig-egal»-, gefolgt vom «Mich-regt-alles-nur-noch-auf»-Modus.

Einer dieser Modi trifft mich immer mal wieder. Zuletzt beim Besuch der Uffizien in Florenz, wo ich mich gefreut habe, dass es bald Abend ist und ich ins Bett kann, statt mich am Anblick von Botticellis Venus zu ergötzen. Beim Anblick von Michelangelos David habe ich mich über dessen unproportionalen Körper aufgeregt. Und der Ponte Vecchio mit seinen Touristenscharen gab mir dann den Rest.

Inzwischen weiss ich, dass ein oder zwei Wochen gute alte Routine helfen, mein Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen. Ich stelle mich auf einen kleinen, ruhigen Campingplatz auf dem Land, gehe jeden Morgen meinen Weg zum Bäcker, esse regelmässig meine Mahlzeiten, halte mich vom Internet fern, beschäftige mich kreativ und schlafe lange.

Nach dieser selbstauferlegten Kur finden dann auch Davids Proportionen wieder Gnade vor meinen Augen.

Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.

Fünf Jahre

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title