Es war Liebe auf den ersten Ton
24.11.2023 LäufelfingenLes Bois | Stephan Berger und der Serpent
Im «Atelier de cuir» von Stephan Berger und Erna Suter gibt es raffinierte und technisch ausgereifte Produkte. Weltweit bekannt wurden sie mit ihren Führhundegeschirren, die sie für Blindenhundeschulen ...
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Im «Atelier de cuir» von Stephan Berger und Erna Suter gibt es raffinierte und technisch ausgereifte Produkte. Weltweit bekannt wurden sie mit ihren Führhundegeschirren, die sie für Blindenhundeschulen anfertigten.
Brigitte Keller
Als Stephan Berger, aufgewachsen in Läufelfingen, gegen Ende seiner obligatorischen Schulzeit gefragt wurde, welchen Beruf er sich vorstellen könne, lautete seine Antwort: «Etwas mit Sprache und Schreiben.» «Ja, liest du denn – und was?», wollte es der Berufsberater ganz genau wissen. Spontan fiel dem jungen Mann in dem Moment partout nichts ein. Damit war dieses Thema abgehakt und dem Schulabgänger eine Lehre zum Schmied und Landmaschinenmechaniker vermittelt.
Vor Kurzem drängte die alte Leidenschaft für Sprache und das Schreiben wieder einmal unvermittelt an die Oberfläche, und Berger, mittlerweile 67 Jahre alt, hat eine Geschichte über ein – sein – barockes Instrument, den Serpent, geschrieben. Der Text, bestehend aus verbürgten Überlieferungen, ergänzt mit der Fantasie Entsprungenem, wurde im Anschluss als Märchenaufführung ausgearbeitet, mit eigens komponierter Musik. Sie feiert demnächst Premiere.
Dazwischen liegt ein Leben, das von Offenheit für Zufälle und Neuem, überraschenden Entscheidungen und grossen handwerklichen Errungenschaften begleitet war. Da war beispielsweise die Abschlussreise mit der Berufsschulklasse, als sich sein Fachlehrer neben ihn setzte und ihm eine Stelle in seinem Betrieb anbot. «Ich lasse mich in meinem ganzen Leben nie anstellen», hörte sich Berger zur eigenen Verwunderung sagen. Die Überraschung war auch beim Vis-à-vis gross und das Gespräch damit beendet.
Es folgte eine Phase mit der ersten eigenen Werkstatt, zur Freude der Eltern. Doch die grosse Verantwortung lastete schwer auf dem jungen Berufsmann. Nach kurzer Zeit verkaufte er den Maschinenpark und machte sich auf zu einer grossen Reise. Auch diese war geprägt von Zufällen. Für ein paar Monate half er einem Weinbauern in Bordeaux (F), wusch Berge von Tellern in einer Hotelküche und schweisste Rohre für ein Kühlsystem auf einem Dach in Israel. Ganz besonders Letzteres sei eine sehr gute – wenn auch schweisstreibende – Erfahrung gewesen, hauptsächlich wegen der tollen Stimmung unter den Arbeitern, Arabern und Israelis.
Nach einem Jahr kehrte Berger in die Schweiz zurück und kurze Zeit später trat mit Erna Suter seine zukünftige Frau in sein Leben. Das junge Paar wohnte zu jener Zeit in einem alten Haus in Ormalingen, dem «Schaube Karlis Huus». Suter ihrerseits war zurück von einer vierjährigen Ausbildungszeit bei einem Bildhauer in Frankreich und startete gerade ihre kunsthandwerkliche Berufstätigkeit.
Stephan Berger wollte immer noch «etwas mit Sprachen» machen, und so nahm er ein akademisches Studium in Angriff. Der eingeschlagene Weg bedingte nach zwei Jahren des Fernstudiums seine Anwesenheit im Vorlesungssaal in Zürich. Und dort überkam ihn eines Tages erneut eine absolute Gewissheit, diejenige nämlich, dass dies doch nicht der richtige Ort respektive Weg für ihn war. Er stand auf, liess alles liegen, verliess den Raum und kehrte nie mehr dorthin zurück.
Leidenschaft für Leder
«Danach hatte ich endlich genug Zeit zum Nachdenken», sagt Berger rückblickend. Das Paar war viel und gerne in der Natur unterwegs. Der Kauf einer Vespa und die vergebliche Suche nach einem schützenden und gleichzeitig bequemen Nierengurt war im Nachhinein betrachtet wieder einer dieser Zufälle und entscheidende Wegmarke auf dem Lebensweg des Paares. Die beiden geschickten Handwerker entwickelten einen eigenen Gurt und wurden zu Spezialisten im Umgang mit dem Material Leder. Dass dies der Anfang einer erfolgreichen Berufstätigkeit sein würde, ahnten sie da noch nicht.
Doch bald ging es Schlag auf Schlag. Die ersten Lederprodukte fanden reissenden Absatz, zuerst am Sissacher «Määrt» und bald darauf am neuen, jährlich einen Monat lang stattfindenden Handwerkermarkt im Dalbeloch in Basel. Und, wie könnte es anders sein, kam es auch dort wieder zu einer schicksalhaften Begegnung und Wendung in ihrem Leben. Eines Morgens kam Walter Rupp, Gründer der Allschwiler Blindenführhundeschule, an den Stand zu Stephan Berger. Er war auf der Suche nach Handwerkern, die Führhundegeschirre reparieren konnten.
In einem Beitrag in der Zeitschrift Brava (das Magazin der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde Allschwil), Ausgabe Oktober 2021, steht als Würdigung zur damals zu Ende gegangenen, 40 Jahre dauernden Zusammenarbeit zu lesen: «Was die beiden, Stephan Berger und Erna Suter, auszeichnet, sind Neugier, Erfindergeist und die Bereitschaft, sich stets neue Kniffe des Arbeitens mit Leder anzueignen.»
Stunden des Tüftelns
Es war nämlich nicht bei Reparaturen geblieben, bald schon wurde das «Atelier de cuir» in die Entwicklung eines neuen Führhundegeschirrs involviert. In unzähligen Stunden des Tüftelns und in stetem Austausch mit erfahrenen Führhundeinstruktoren der Allschwiler Schule entwickelte Berger ein neues Geschirr. Weitere renommierte Blindenhundeschulen rund um den Globus kamen bald dazu. Für die USA entwickelten sie ein weiteres, sehr erfolgreiches Geschirr.
Familie Berger-Suter war zwischenzeitlich, 1986, von Ormalingen in den Kanton Jura, genauer nach Les Bois «ausgewandert». Auf der Suche nach mehr Ruhe hatten sie das alte Haus im Distrikt Franches-Montagnes entdeckt, das sie nach und nach mit viel Liebe zum Detail umbauten. Zu jener Zeit wurden sie auch Eltern eines Sohnes und einer Tochter.
Aus ihrem «Atelier de cuir» entstammten im Laufe der Zeit Schulranzen für Kinder, aber auch Stühle und Tische, die Polsterung für eine Landauer-Kutsche und die Lederausstattung für einen Oldtimer. Gar ein Kostüm für Dominik Gasser vom Zirkus Olympia reiht sich in die Geschichte ein. Das nötige Wissen eigneten sich Berger und Suter jeweils bei Aufenthalten bei renommierten Fachleuten im In- und Ausland an.
Erfüllte Berger Aufträge für Taschen und Etuis für Musikinstrumente, habe er dabei so manches Mal gedacht: «Lieber würde ich das Instrument darin anfertigen.» Dass genau dieser Wunsch im Anschluss an einen Besuch im «Café du Soleil» im benachbarten Saignelégier in Erfüllung gehen würde, war wieder einer dieser lebensverändernden Zufälle.
«Das schaffe ich»
An jenem Abend 2005 trat Michel Godard auf, ein französischer Virtuose auf dem barocken Blasinstrument Serpent. Godard war von der «Cité de la Musique» in Paris beauftragt, einen historischen Nachbau eines Serpents zu veranlassen. Die Holzarbeit konnte realisiert werden, für den Bezug aus Leder fand er beim besten Willen niemanden. Dieses Wissen war verloren. Als Stephan Berger diese Geschichte zu Ohren kam, hörte er sich wieder einmal zur eigenen Verwunderung sagen: «Das schaffe ich.» Und er nahm sich der Sache mit Haut und Haaren an.
Wie er das Geheimnis der «singenden Schlange» nach Jahren des Suchens, Ausprobierens und auch der Misserfolge löste, ist so spannend wie ein Krimi (siehe Kasten zur «Passage»- Radiosendung).
Der Klangkörper aus Nussbaumholz, die Anordnung der Grifflöcher, das Mundstück aus Horn, das Verbindungsstück aus Messing plus die Abschlusshülse, die Ummantelung aus Pergament und Leim und dessen Versiegelung mit Schellack: Um an all das Wissen darüber heranzukommen und damit originalgetreue Serpente nachzubauen, musste Berger viel nachforschen und sich neue Fähigkeiten bei entsprechenden Fachleuten aneignen. Nach dem erfolgreichen Nachbau, rund zwei Jahren Entwicklungszeit, machte sich Berger daran, herauszufinden, ob man das Instrument vielleicht noch verbessern könnte.
Mittlerweile ist Berger längst zum weltweit anerkannten und gesuchten Fachmann für den Serpent geworden. Er hat ein Forschungsprojekt initiiert und als Teil davon antike Instrumente in Museen im In- und Ausland untersucht und Expertisen dazu verfasst. Der riesige Einsatz für den Erhalt oder besser gesagt für die Rettung und Wiederbelebung des Serpents brachte ihm Anerkennung von «höchster Ebene».
Spielen selbst beigebracht
In «The Cambridge Encyclopedia of Brass Instruments» wird unter anderem gewürdigt, übersetzt ins Deutsche, dass «der Schweizer Instrumentenbauer Stephan Berger zu Beginn des 21. Jahrhunderts schliesslich Serpente herstellte, einige davon aus Kohlefaser, die es den Spielern ermöglichten, sich der Musik zu nähern wie ein Interpret auf jedem anderen Instrument: eher in Partnerschaft als im Kampf».
Spielen können auf dem Instrument, das wollte auch Berger. Und so brachte er es sich selbst bei – mit Unterstützung von Michel Godard. Zusammen organisieren sie mittlerweile alle zwei Jahre eine Art Meisterklasse namens «The Serpent Journey». «Michel ist ein begnadeter Pädagoge, es ist unglaublich, welche Fortschritte die Schüler innerhalb weniger Tage machen können.» Auch interessierte Anfänger seien willkommen, ihnen werde ein Serpent zur Verfügung gestellt.
Einer von Godards ehemaligen Schülern, Patrick Wibart, geniesst weltweites Ansehen und gab kürzlich ein exklusives Konzert in Saint-Imier, natürlich mit einem «Berger Serpent». Er ist mit Berger befreundet und vertraut ganz auf dessen Fachwissen. Auch ein eigens entwickelter Ventilator aus Bergers Werkstatt, um Schäden durch Feuchtigkeit im Innern der Instrumente vorzubeugen, wurde in Fachkreisen dankbar aufgenommen.
Bergers Leidenschaft für das barocke Instrument wurde in der Beschreibung zur «Passage»- Sendung wohl zu Recht als «Liebe auf den ersten Ton» bezeichnet. Die Hingabe dazu und die Freude an Sprache und dem Schreiben verschmelzen nun, wie eingangs erwähnt, in der Geschichte und Inszenierung des Stücks «Le Serpent raconte».
Der Serpent oder das Geheimnis der singenden Schlange
Geschichte: Die Mehrzahl der Spezialisten ist sich darin einig, dass der Serpent in Auxerre, Frankreich, zum ersten Mal verwendet wurde. 1590 gilt als Geburtsstunde. Er war dazu gedacht, den Choralgesang in den Kirchen zu begleiten und zu verstärken. Der berühmte Musikhistoriker Charles Burney schrieb dazu: «Es hilft ihnen, die Stimmung zu halten – so wie ein Krückstock, auf den man sich stützen kann.» Wegen der charakteristischen Form, dem Doppel-S, wurde das Instrument Serpent (Schlange) genannt.
Das 17. und 18. Jahrhundert wird als die Blütezeit des Instruments bezeichnet, jede Kirche in Frankreich hatte ihren Serpentisten. Das industrielle Zeitalter hat auch die Welt der Musik zutiefst beeinflusst, indem es die Schaffung neuer, lauterer und einfacher zu spielender Instrumente ermöglichte. Der Serpent mit seinen sechs Löchern wurde abgelöst durch die Ophikleide, die bis zu zwölf Klappen besitzt. Diese wiederum wird als Vorläuferin der Tuba angesehen.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann eine Bewegung, welche die Beschäftigung mit historischen Instrumenten und originaler Aufführungspraxis in den Mittelpunkt stellte, darunter auch der Serpent. Der französische Jazzer und Tuba-Virtuose Michel Godard gehört zu denjenigen, die den Serpent in der Gegenwart bekannt gemacht haben. Es gelang ihm, die Beziehung zwischen der Alten Musik und den viel freieren Harmonien des Jazz zu verdeutlichen. Damit hat er dem Serpent eine grosse Bandbreite neuer Möglichkeiten eröffnet.
Material: Der Korpus besteht aus Walnussholz. Zwei identische, gespiegelte Hohlformen in der Form eines «S» werden zusammengesetzt, verleimt und anschliessend mit Pergament, der Haut vom Kalb, ummantelt. Danach wird der Instrumentenkörper zum Schutz und zur Verschönerung mit Schellack überzogen. Ein Mundstück, hergestellt aus Horn, sowie ein Rohr aus Messing als Verbindungsstück komplettieren das Instrument. Der «SBerger Originalserpent» besteht ausschliesslich aus Materialien, wie sie schon zur Geburtsstunde des Serpents verwendet wurden. Das heute vorhandene Wissen über die Beschaffenheit des Instruments und die Möglichkeit, originalgetreue Nachbauten herzustellen, sind Stephan Berger zu verdanken. Er ist der beste Serpentbauer; Musiker auf der ganzen Welt schätzen sein Können. Einen Einblick, wie der Multihandwerker Stephan Berger zum Instrumentendetektiv wurde und wie er das Geheimnis nach zweijähriger Suche schliesslich löste, bietet die Sendung «Der Serpent oder das Geheimnis der singenden Schlange», eine Folge der Radiosendung «Passage» von Yvonne Scherrer vom 14. Oktober 2022.
Brigitte Keller
Blindenhundegeschirre
bke. Das im Artikel erwähnte Geschäft mit den Blindenhundegeschirren konnte 2021 erfolgreich einer neuen Generation übergeben werden: Die Maschinen und das Wissen darüber fanden bei Alessandro und Sandra Kaufmann, zuhinterst im Maggiatal, eine neue Heimat. Mehr dazu lässt sich auf der Website www.berghilfe.ch/projekte/erst-handarbeit-dannhundarbeit nachlesen.