«Es braucht ein Umdenken»
20.06.2025 GesundheitDer Verein für Sozialpsychiatrie Baselland ist gemeinnützig organisiert und unterstützt Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Seit diesem Jahr ist die in Basel wohnhafte Ursula Baumhoer (42) als Geschäftsleiterin verantwortlich für die Umsetzung der ...
Der Verein für Sozialpsychiatrie Baselland ist gemeinnützig organisiert und unterstützt Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Seit diesem Jahr ist die in Basel wohnhafte Ursula Baumhoer (42) als Geschäftsleiterin verantwortlich für die Umsetzung der Strategie.
Sander van Riemsdijk
Frau Baumhoer, wie wirken soziale Faktoren auf die Entstehung und Entwicklung psychischer Erkrankungen?
Ursula Baumhoer: In einem umfassenden Verständnis von Krankheit und Gesundheit, wie wir es in der Sozialpsychiatrie leben, sind für die Entstehung und Entwicklung von psychischen Erkrankungen Wechselwirkungen von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren bedeutend. Eine Erkrankung beziehungsweise Behinderung verstehen wir nicht als eine Eigenschaft einer Person, sondern als ein sich veränderndes Ergebnis aus dem Zusammenspiel von mehreren Faktoren. Wir setzen uns für eine aktive Teilhabe von Menschen mit psychischen Erkrankungen an der Gesellschaft ein.
Wie verläuft der Integrationsprozess bei Menschen mit psychischen Erkrankungen und wie gross ist die gesellschaftliche Akzeptanz?
Der Integrationsprozess verläuft selten linear – er ist so individuell wie der Mensch selbst. Was wir sehen, ist, dass Integration dann gut gelingt, wenn passende Strukturen, kontinuierliche Begleitung und echte Teilhabemöglichkeiten vorhanden sind. Was die gesellschaftliche Akzeptanz betrifft, sehen wir Fortschritte und dennoch leider nach wie vor deutliche Grenzen. Zwar wird heute häufiger über psychische Gesundheit gesprochen, aber das bedeutet nicht automatisch mehr Verständnis oder Offenheit. Gerade im Arbeitsleben sind Stigmatisierung und Unsicherheit weit verbreitet. Insgesamt haben wir erste Schritte gemacht – aber wenn wir von echter Inklusion sprechen, liegt noch ein weiter Weg vor uns.
Wie kann der Stigmatisierung entgegengewirkt werden?
Es gibt positive Entwicklungen im Hinblick auf Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen. Insbesondere jüngere Menschen können heute offener über eigene Krisenerfahrungen sprechen. Dennoch bestehen in weiten Teilen der Gesellschaft falsche Vorstellungen und Unwissen über Ursachen und Umgang mit psychischen Erkrankungen – was dazu führt, dass betroffene Personen darunter leiden. Für viele Betroffene sind Stigmatisierung und ihre Folgen oft belastender als die eigentliche Erkrankung. Wir setzen uns für Entstigmatisierung und den Abbau von Barrieren ein. Es braucht Aufklärung und Sensibilisierung. Wir müssen über psychische Gesundheit und Krankheiten reden. Es gilt, Strukturen zu schaffen, die Teilhabe ermöglichen – und nicht nur Betreuung anzubieten.
Wie erfolgreich ist die Integration von Betroffenen in den Wohn- und Arbeitsmarkt?
Die Integration gelingt unterschiedlich gut. Beim Wohnen unterstützt die ambulante Wohnbegleitung Menschen in ihrem vertrauten Umfeld. Um schwankenden Verläufen und Rückfällen gerecht zu werden, bieten wir durchlässige Angebote an, sodass zum Beispiel bei Bedarf vorübergehend mehr Unterstützung in einem Wohnhaus angeboten werden kann, um dann später wieder selbstständiger in der eigenen Wohnung leben zu können. Herausfordernd ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Die Teilhabe am Arbeitsleben bleibt für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen nach wie vor unerreichbar – nicht aufgrund mangelnder Fähigkeiten, sondern wegen struktureller Barrieren und tief verankerter Vorurteile. Es braucht ein Umdenken in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Was müsste konkret verbessert werden?
Unsere Gesellschaft ist noch zu stark von einer defizitorientierten Sichtweise geprägt. So orientieren sich Angebote und Unterstützungssysteme oft zuerst daran, welche «Defizite» vorliegen, statt zu fragen: Was wäre möglich, wenn wir passende Rahmenbedingungen schaffen? Zentral für einen gelingenden inklusiven Arbeitsmarkt ist die Bereitschaft der Betriebe. Auch wir als Anbieter von Leistungen der Behindertenhilfe sind gefordert, unsere Begleitung anzupassen. Wohn-Inklusion braucht vor allem eines: bezahlbaren Wohnraum. Dieser ist knapp und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen wird der Zugang zum Wohnungsmarkt teilweise verwehrt. Wir bieten deshalb Wohnungen zur Untermiete an, sodass Personen mit Unterstützung durch ambulante Wohnbegleitung möglichst selbstbestimmt leben können.
Welche Rolle spielen Angehörige und das soziale Umfeld bei der Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Angehörige spielen eine zentrale Rolle. Sie bilden oft das tragende Netz, das weiterhin besteht – etwa nach einem Klinikaufenthalt. Dennoch werden Angehörige nach wie vor zu wenig in Behandlungsprozesse einbezogen. Hier besteht auch für uns Fachpersonen noch deutlicher Handlungsbedarf.
Welche Unterstützungsangebote sind für Menschen mit psychischen Erkrankungen notwendig?
Die Anforderungen an Unterstützungsangebote sollten der jeweiligen individuellen Situation und den persönlichen Bedürfnissen entsprechen. Wann immer möglich, sollte die Unterstützung im gewohnten Umfeld der betroffenen Person erfolgen. Dabei ist es wichtig, den Fokus nicht ausschliesslich auf die Krankheit und deren Symptome zu legen, sondern den Menschen in seiner Gesamtheit – mit seinen Stärken und Ressourcen – wahrzunehmen. Wir erleben jedoch nach wie vor Situationen, in denen Betroffene lange versuchen, ihre Probleme alleine zu bewältigen – und erst dann Hilfe in Anspruch nehmen, wenn es nicht mehr anders geht, oft in Form eines Klinikaufenthalts. Daher ist es grundsätzlich wichtig, dass wir Angebote weiterentwickeln sowie die Menschen frühzeitig und individuell in ihrem gewohnten Umfeld unterstützen.
Mitgliederversammlung des Vereins,
Dienstag, 24. Juni, 18.30 bis 19.30 Uhr,
Kantine Werkhalle,
Tramstrasse 66, Münchenstein.