«Er war ein Spinner, der einfach sein Ding durchzog»
22.05.2025 SissachStefan Zemp gewährt anlässlich des 100. Geburtstags von Jean Tinguely Einblicke in dessen Schaffen
Jean Tinguely (1925–1991) ist einer der bekanntesten Schweizer Künstler aller Zeiten. Der Sissacher Hafner und ehemalige SP-Landrat Stefan Zemp ist ein Kenner seines ...
Stefan Zemp gewährt anlässlich des 100. Geburtstags von Jean Tinguely Einblicke in dessen Schaffen
Jean Tinguely (1925–1991) ist einer der bekanntesten Schweizer Künstler aller Zeiten. Der Sissacher Hafner und ehemalige SP-Landrat Stefan Zemp ist ein Kenner seines Werks, besitzt selbst Tinguely-Werke und erzählt spannende Anekdoten anlässlich des 100. Geburtstags des Ausnahmekünstlers.
Nikolaos Schär
Er schuf ein schier unüberschaubares Werk und begründete zusammen mit anderen renommierten internationalen Künstlern den Stil der «Nouveaux Réalistes» (Neue Realisten). Die Rede ist von Jean Tinguely. In seiner Wahlheimat Basel setzte die Familie Hoffmann (F. Hoffmann-La Roche) dem gebürtigen Freiburger mit dem Tinguely-Museum ein Denkmal. Heute wäre sein 100. Geburtstag gewesen. Weniger bekannt ist, dass Tinguelys Werk auch Verbindungen ins Oberbaselbiet aufweist.
Kaum jemand weiss mehr darüber zu erzählen als Stefan Zemp, Hafner und ehemaliger SP-Landrat. Eine Vielzahl von Drucken und Skizzen Tinguelys und dessen Künstlerkollegen ziert die Wände seines Hauses am Wuhrweg in Sissach. Auf seinem Tisch liegt ein Bauplan mit dazugehöriger Anleitung zum «Maschinenraum Haus Lange». Auf einer schwarzen Grundplatte kreisen weisse Balken, die durch ein mechanisch angetriebenes Räderwerk in ständiger Bewegung eine abstrakte Komposition erzeugen und im nächsten Moment wieder zerstören. Zemp liest die Notiz von Tinguely auf dem Bauplan vor: «Mit diesem Plan fordere ich Sie auf, dieses Bild zu konstruieren oder konstruieren zu lassen, und betrachte das exakt ausgeführte Resultat als eine Originalarbeit von mir.» Gesagt, getan.
Zemp gelangte über den bekannten Assistenten Sepp Imhof, der die kreativen Schöpfungen Tinguelys in die Realität umsetzte, an den «originalen» Tinguely. Der Sissacher stammt aus einer Handwerkerfamilie und hatte kaum Berührungspunkte zur Kunstwelt. Über seine Freundin geriet er in das Umfeld des Künstlers, sagt Zemp: «Ihr Vater war ein Busenfreund von Tinguely.» Als er seine Kunst zum ersten Mal sah, war er sofort elektrisiert.
«Er schuf Werke für die Freude; Kinder spielten an seinen Maschinen – diese kindliche, anarchistische Art faszinierte mich. Tinguely war ein Spinner, der einfach sein Ding durchzog», sagt Zemp. Durch die Personen in Tinguelys Umfeld kam er zu viel Hintergrundwissen: «Ich weiss sehr viel über sein Schaffen, obwohl ich ihn nie persönlich getroffen habe», so Zemp.
Schulkollege von Fritz Heid
In seinem Wohnzimmer zeigt er auf ein Werk, das mit «Ris» signiert ist (siehe Bild). Er zieht den gebogenen Metalldraht auf und lässt ihn schwingen. «Ich bin fest davon überzeugt, dass die Idee der Bewegung in Tinguelys Werken hier ihren Ursprung hat», sagt Zemp. Julia Ris wuchs in Berlin auf. Sie war eine bekannte Grafikerin, Malerin und Kunstlehrerin, lebte lange Zeit in Basel und unterrichtete an der dortigen Kunstgewerbeschule. Zu ihren Schülern zählten Tinguely sowie der Sissacher Bildhauer Fritz Heid (Heid Küchen AG).
«Ich glaube, Fritz wäre lieber Künstler geworden, stieg dann aber in den Familienbetrieb ein», sagt Zemp. Die Kunstsammlung der Einwohnergemeinde Sissach besitzt Werke von Ris und Heid. Die beiden heirateten nach Ris erster Ehe mit dem bekannten Künstler Theo Eble und lebten von den 1950er- bis Ende der 1970er-Jahre auf dem Kienberghof in Sissach. Zemp hat einige Werke von Heid und Ris bei sich zu Hause. «Per Zufall bin ich damals wegen eines Inserats in der ‹Volksstimme› auf einen Kunstflohmarkt gestossen», sagt Zemp. Bevor Zemp wusste, dass Tinguely bei Ris in die Schule gegangen war, erkannte er in den Werken der Kunstlehrerin Elemente von Tinguelys späterem Schaffen.
Er kramt einen gerahmten Druck hervor, der keinen Platz an der Wand gefunden hat, wischt den Staub weg und sagt leicht melancholisch: «Irgendwann werden wir alle zu Staub.» Tinguely habe mit dieser Vergänglichkeit gespielt. Ihm sei nichts ferner gelegen als das Starre. Zwar habe er enorm davon profitiert, dass seine Werke überall ausgestellt wurden, doch Kunst hinter der Vitrine hätte nicht zu ihm gepasst, sagt Zemp. Tinguelys Werke waren soziale Events. «Heute würde man das Performance. Kunst nennen», so Zemp. Die Interaktion zwischen den Menschen und dem Werk sei genauso wichtig gewesen wie die Maschine selbst, wenn nicht sogar wichtiger. Der Hafner organisiert in seinem kleinen Lokal immer wieder Anlässe, bei denen er «an der sozialen Skulptur meisselt», wie er zu pflegen sagt.
Ein verrückter Jasser
Obwohl Jeannot, wie Tinguely vom Volksmund genannt wurde, ein «enfant terrible» war – er brannte einen Penis vor dem Mailänder Dom nieder (La Vittoria), sprengte sein eigenes Werk im Garten des «Museum of Modern Art» in New York in die Luft und inszenierte den Weltuntergang in der Wüste von Nevada –, kam er bei allen gut an. Ein Beispiel für seine Volksnähe findet Zemp in der Stellenanzeige, mit der er seinen persönlichen Assistenten (Sepp Imhof bekam die Stelle) suchte: «Jean Tinguely sucht Schlosser, Deutschschweizer, vielseitig und schwindelfrei, Autofahrer, Jasskenntnisse sind erwünscht.» Tinguely brauchte Handwerker, um all seine Ideen umzusetzen. Der Projektplan «Maschinenraum Haus Lange» auf Zemps Tisch zeigt das sehr schön. Hauptsache seine Ideen wurden umgesetzt.
Tinguely pflegte auch gute Beziehungen zum Basler Bürgertum. «Katholische Üppigkeit trifft protestantischen Purismus», umschrieb der mittlerweile verstorbene Vater von Zemps Freundin den Zusammenprall von Tinguely und der Stadtbasler Gesellschaft. Mit den «Kuttleputzer» sorgte er an der Basler Fasnacht für Tumult: Die «Kuttleputzer» – sonst als wilde Clique unterwegs – meldeten sich offiziell für den Cortège 1974 an, um dann vor der etablierten Fasnachtsgesellschaft «dr gross Bums» abzufeuern.
Tinguely war die Hefe im «Daig»
Die als Sarg getarnte Batterie schoss Unmengen von Böllern, Russ, Konfetti und Federn in die Luft. Das Fasnachts-Comité war schockiert. Zemp selbst konnte die anarchistische Clique einige Male beim «Gässle» begleiten. «Die liefen einfach doppelt so schnell bei den Märschen», so Zemp. Die Clique, die für ein chaotisches Element in der streng reglementierten Basler Fasnacht sorgte, löste sich Ende der 1990er-Jahre auf.
Mit einem breiten Grinsen zeigt Zemp einen illustrierten Band über die Geschichte der Clique. «Das war ein chaotischer Haufen. Die hatten ständig Streit miteinander. Jeder wollte Chef sein», so Zemp. Tinguely war mehrfach für die Sujets der «Kuttleputzer» verantwortlich. Zemp besitzt eine Original-Larve der «Stadtindianer» – eines von Tinguelys Sujets –, mit der er selbst an die Fasnacht ging (siehe Bild). Angst, dass sie kaputtgehen könnte, habe er nicht. «Tinguely hätte das gefallen», so Zemp. Aus der Larve ragen lange, dünne Drähte, an deren Enden Federn, Eier und Dinge, die eher an Müll erinnern, befestigt sind.
Im oberen Stockwerk von Zemps Lokal steht eine Maschine, die aus Rädern besteht,durch Gummiriemen miteinander verbunden sind und durch einen Elektromotor angetrieben werden. Zemp steckt die selbst gebaute Maschine ein. Die Räder drehen sich und machen Krach. Er hat sie auf den Namen «Hommage an Jeannot» getauft. Daneben stehen am Boden gerahmte Collagen mit der Beschriftung «Kunstrecycling». Bei näherer Betrachtung erkennt man darin Einladungskarten zu Tinguelys Veranstaltungen.
Zemps Leben und sein Haus strotzen nur so von Verweisen auf den berühmten Künstler. Er hätte ihn gerne einmal getroffen. «Tinguely war ein Vorbild, das mich inspirierte, selbstbewusst zu sein und mein Ding durchzuziehen.» Im Tinguely-Museum, das er oft besuchte, traf ihn einst ein abspickendes Plastikteil einer Maschine. Die Mitarbeiter seien sofort zu ihm gerannt, weil sie Angst hatten, von ihm verklagt zu werden. Zemp war begeistert: «Wer kann schon behaupten, von einem Tinguely getroffen worden zu sein?»