Entgleisung im Gotthardtunnel: Systemversagen
07.11.2023 VerkehrUnmittelbar nach diesem Unfall waren in der Öffentlichkeit die Schuldigen rasch gefunden: Der Besitzer des zuerst entgleisten Güterwagens des Zugs mit offenbar vorwiegend deutschem Rollmaterial. Es wurde bemängelt, dass das (wahrscheinlich schon länger) angerissene Rad als ...
Unmittelbar nach diesem Unfall waren in der Öffentlichkeit die Schuldigen rasch gefunden: Der Besitzer des zuerst entgleisten Güterwagens des Zugs mit offenbar vorwiegend deutschem Rollmaterial. Es wurde bemängelt, dass das (wahrscheinlich schon länger) angerissene Rad als Auslöser der späteren Entgleisung anlässlich der routinemässigen Kontrolle vor der Abfahrt des neu zusammengestellten Zuges nicht entdeckt wurde.
Weiter wurde festgestellt, dass Kontrolle und Wartung von Güterwagen allgemein zu wünschen übrig lassen. Aber dass das System des Güterbahntransports insgesamt, europaweit organisiert und geregelt, technologisch rückständig sein könnte, wurde dabei kaum erwähnt.
Wie der kürzlich publizierte Zwischenbericht der Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) bestätigt, handelte es sich beim vorliegenden Radbruch nicht um einen Einzelfall, sondern um ein Systemversagen, denn auch andere Räder des unfallverursachenden Wagens zeigten bereits Risse, die erst nachträglich entdeckt wurden.
Es ist auch völlig praxisfremd, möglicherweise schon Tausende von Kilometern vorbestehende Materialermüdung der Radscheiben in Form von Haarrissen, verborgen unter einer Schmutzschicht, anlässlich einer flüchtigen visuellen Inspektion unter Zeitdruck des abfahrbereiten Zuges entdecken zu können. Solch minutiöse Arbeit wird, wegen der speziell dafür benötigten Hilfsmittel, vorwiegend in Werkstätten ausgeführt und benötigt weit mehr Zeit.
Nach dem plötzlichen Totalversagen des vorgeschädigten Rades konnte offenbar noch mehrere Kilometer weitergefahren werden, bevor eine Weiche den Zugsteil hinter dem geschädigten Wagen abtrennte und dadurch eine automatische Notbremsung auslöste. Erst dadurch wurde der Lokführer überhaupt auf den Schaden aufmerksam.
Der grosse zeitliche Abstand zwischen dem Beginn des fortschreitenden Schadens und dessen Wirksamwerden zeigt, dass es weit realistischer wäre, statt wie heute zu versuchen, nach schwierig zu entdeckenden Mängeln wie Haarrissen zu suchen, mittels Sensoren an jedem Wagen den Zug beim allfälligen Entgleisen sofort zu stoppen und so den Schaden möglichst zu begrenzen. Obwohl zwei solcher kombinierten, autonom funktionierenden Entgleisungsdetektoren-Notbremsventile pro Wagen bloss etwa 5000 Euro kosten würden, scheint solche nur ein einziger Güterwagenhalter von Bedeutung in der Schweiz bei Gefahrengütern (freiwillig!) einzusetzen. Dies macht wenigstens die extrem riskanten Chlortransporte etwas sicherer.
Raffiniertere elektronische Sensoren können durch einen permanentem Soll-/Ist-Vergleich und/oder durch die Trendanalyse von noch unkritischen, aber plötzlich sich verändernden Messwerten sofort Alarm schlagen. Das Fehlverhalten des Bauteils (Lärm, Erhitzung, Vibrationen usw.) wird durch den Schaden im Betrieb, statt durch den Schaden selbst festgestellt. Ohne solche Technologien würden in der viel heikleren Zivilluftfahrt weit mehr Unfälle passieren.
Die Behördenaufsicht in der Schweiz, insbesondere das dafür zuständige Bundesamt für Verkehr (BAV), scheint sich gegen die zu einseitig auf Kostenbegrenzung fokussierte mächtige Transportbranche mit solchen Massnahmen kaum durchsetzen zu können. Dies ist besonders inakzeptabel, wenn, wie beim aktuellen Unfall, die Schadenersatzfrage bei mehreren Beteiligten kompliziert und der eigentliche Verursacher durch eine vertragliche Haftungsbegrenzung ohnehin geschützt wird, die nie den tatsächlich entstandenen Schaden abdecken wird. Den grossen Rest wird also der Steuerzahler berappen müssen.
Wenn nun die Schweiz, gebunden durch internationale Verträge, ihre selbstfinanzierten kostbarsten Filetstücke des Transitgüterverkehrs, besonders die alpenquerenden Basistunnel, Nutzern zur Verfügung stellen muss, ohne diese vollumfänglich am Betriebsrisiko beteiligen zu können, dann müssen griffigere politische Lösungen her.
Angenommen, solche internationalen Abkommen betreffen nur öffentliches Eigentum, wäre es eine Möglichkeit, heikle Bahntrassen durch Privatisierung vor untragbaren vertraglichen eingegangenen Risiken zu schützen. So könnte der Infrastruktur-Besitzer unabhängig seine eigenen Betriebsbedingungen und somit höhere Sicherheitsanforderungen an das durchfahrende Rollmaterial durchsetzen.
Die dadurch höheren Transportkosten auf solch privaten Trassen bewirken natürlich eine Verlagerung des Güterverkehrs auf andere Verkehrswege und Ver- kehrsmittel (Lastwagen), was aber dort schon aus Kapazitätsgründen überschaubar bleiben wird.
Die Attraktivität des ohnehin rascheren Schweiz-Transits durch die Basistunnel liesse sich zusätzlich steigern, wenn Züge, technologisch bereits heute möglich, einheitlich aus 140-km/h-tauglichen Wagen bestünden – was für die häufigen Containertransitzüge auch betrieblich einfach zu realisieren wäre. Solche «Güterschnellzüge» würden weit weniger als bisher den schnelleren Personenverkehr behindern, ja sogar durch zusätzliche Züge die Tunneldurchfahrtskapazität noch steigern.
Solche «Güterschnellzüge» benötigten aber zwingend eine permanente Sensorenüberwachung eines jeden Rades, alle durch eine den ganzen Zug verbindende Signalleitung mit der Lokomotive verbunden. Elektronisch gesteuerte Bremsen, bei Personenzügen längst Standard, würden im Gegensatz zum völlig veralteten, rein pneumatischen Bremsprinzip bei Güterzügen eine wesentlich raschere und besser dosierbare Bremsung erlauben.
Die Einführung der elektronisch gesteuerten pneumatischen Bremse bei Güterzügen kommt in Europa angeblich aus Kostengründen, aber auch wegen fehlendem politischen Willen kaum voran. So ist es doch paradox, dass ausgerechnet einige aussereuropäische, privat betriebene Bahnen nur für den eher risikolosen Erztransport solche Bremsen eingeführt haben, ausschliesslich um den Betrieb der Gesamtanlage zu gewährleisten, also aus rein wirtschaftlichen Gründen. Was eigentlich auch für den Gotthardbasistunnel hätte gelten sollen.
Hans Weigum
Der Autor ist diplomierter Ingenieur ETH. Er war unter anderem tätig in der Inbetriebnahme und Begutachtung unabhängiger Notkühlsysteme in Kernkraftwerken und Qualitätsverantwortlicher bei medizinischen Implantaten. Erfahrung in der Bahntechnik erlangte er im Zusammenhang mit Rollmaterial für Erzminen in Afrika und beim Gleisbau für Hilfsgütertransporte im Kaukasus. Publizistisch ist er bei den Schweizer Bahnjournalisten tätig. Er lebt in Waldenburg.