Einen Schritt näherkommen
28.12.2023 PolitikDie Adventszeit habe ich oft als eine widersprüchliche Zeit erlebt. Einerseits will und muss ich noch möglichst viel vor Jahresende erledigen. Was davon wirklich nötig ist, sei mal dahingestellt. Andererseits möchte ich es in diesen kurzen Tagen und langen, kalten Abenden ...
Die Adventszeit habe ich oft als eine widersprüchliche Zeit erlebt. Einerseits will und muss ich noch möglichst viel vor Jahresende erledigen. Was davon wirklich nötig ist, sei mal dahingestellt. Andererseits möchte ich es in diesen kurzen Tagen und langen, kalten Abenden ruhiger nehmen, Zeit haben für Freunde und Familie. Für einmal nicht übermüdet und gestresst in die Weihnachtstage hineinstolpern. Dieses Jahr haben wir auf Initiative meiner Frau beschlossen, die Vorweihnachtszeit ruhiger zu nehmen und zu versuchen, uns von den eigenen Erwartungen zu lösen. Denn oft sind es nicht nur die notwendigen Verpflichtungen, die den Druck bewirken, sondern meine Vorstellungen, was von mir erwartet wird. Bis zu einem gewissen Grad ist uns diese Befreiung gelungen. Das gab mir unter anderem etwas mehr Zeit zu lesen, und dabei sind mir zwei kurze Texte untergekommen, die im Abstand von fast tausend Jahren und in zwei unterschiedlichen Kulturkreisen geschrieben wurden.
Der eine aus dem 21. Jahrhundert ist in der «Republik» erschienen. Er ent- stammt den «Strategien zum Lesen von Gedichten» des amerikanischen Dichters Mark Yakichs: «Wenn du einem Gedicht begegnest, dann versuch, seine Bedingungen zu akzeptieren anstatt deine Bedingungen durchzusetzen. (…) Versuch, das Gedicht nicht auf dein Leben zu beziehen. Versuch zu sehen, welche Welt das Gedicht entstehen lässt. Mit etwas Glück wird es dich dann deine eigene Welt neu sehen lassen.» Daniel Graf, der Autor des Artikels, bemerkt treffend, dass dies nicht nur für schwierige Lyrik gilt. Man kann versuchsweise das Wort «Gedicht» durch «Mensch» ersetzen und es kann sein, dass man dadurch nicht nur beim anderen, sondern auch bei sich selbst Neues entdeckt oder zumindest die Erfahrung macht, dass die Welt noch ganz andere Facetten aufweist.
Den anderen Text habe ich im neusten Buch von Navid Kermani gefunden. Es ist eine Geschichte aus dem Persien des 11. Jahrhunderts. «Als Scheich Abu Said, einer der berühmtesten islamischen Mystiker des elften Jahrhunderts, einmal nach Tus kam, einer Stadt im Nordosten des heutigen Irans, strömten in Erwartung seiner Predigt so viele Gläubige in die Moschee, dass kein Platz mehr blieb. ‹Gott möge mir vergeben›, rief der Platzanweiser, ‹jeder soll von da, wo er ist, ei- nen Schritt näherkommen.› Da schloss der Scheich die Versammlung, bevor sie begonnen hatte.‹Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt›, gab er zur Erklärung, bevor er sich umwandte und die Stadt verliess.»
In der Politik wird die eloquente Vertretung des eigenen Standpunktes oft als Stärke angesehen. Aber Standpunkte sind nur Ausgangspunkte. Um vorwärtszukommen und konstruktive Lösungen, die zum Wohle der Allgemeinheit beitragen, zu finden und umzusetzen, sind Schritte auf einander zu notwendig. Natürlich gilt dies nicht nur in der Politik. So wünsche ich uns allen ein neues Jahr mit Schritten, die uns die Welt und uns selbst neu entdecken lassen.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.