Eine Kindheit in Afrika
04.01.2024 SissachChristine Tschudin verbrachte ihre ersten sieben Jahre als Missionarstochter in Ghana – ein Gespräch
Missionare zogen aus, um die Heiden in aller Welt vom christlichen Glauben zu überzeugen. Heute wird dieses Wirken häufig kritisch beurteilt. Die 1951 geborene ...
Christine Tschudin verbrachte ihre ersten sieben Jahre als Missionarstochter in Ghana – ein Gespräch
Missionare zogen aus, um die Heiden in aller Welt vom christlichen Glauben zu überzeugen. Heute wird dieses Wirken häufig kritisch beurteilt. Die 1951 geborene Sissacherin Christine Tschudin war einst Missionarskind in Afrika. Sie blickt zurück.
Matthias Manz
Frau Tschudin, Ihre Eltern zogen 1950 als junges Paar für die Basler Mission nach Ghana, die damalige Goldküste, und gründeten dort eine Familie. Ihr Vater Oskar Tschudin leitete ein theologisches Seminar in der Kleinstadt Abetifi, Zentral-Ghana. Was waren die Beweggründe Ihrer Eltern für diesen speziellen Berufseinstieg?
Christine Tschudin: Die Generation meiner Eltern, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, war in einer Aufbruchstimmung. Die jungen Menschen sehnten sich nach Frieden, Gerechtigkeit und einer sinnvollen Aufgabe. Sie stiessen mit diesen Wertvorstellungen in christlich-kirchlichen Kreisen auf viel Verständnis. Mein Vater war ausgebildeter Kaufmann und hatte bei der Basler Mission eine theologische Ausbildung absolviert. Meine Mutter unterstützte meinen Vater bei seiner Arbeit tatkräftig mit ihrer offenen, menschenfreundlichen Haltung und als ausgebildete Lehrerin. Sie wirkte in Afrika als eine Art Coach. Das Missionshaus in Abetifi war Gästehaus für Menschen aus aller Welt, war Zufluchtsort für Kranke, für Trauernde, für Ratsuchende jeglicher Art, war aber auch ein Ort für festliche Anlässe das ganze Jahr hindurch.
War der Gang nach Afrika nicht trotzdem sehr speziell?
Mein Vater hat mir erst viel später gestanden, dass auch eine grosse Portion Abenteuerlust eine Rolle gespielt hatte: Die Lust, in ferne und fremde Länder zu reisen und dort Menschen und andere Kulturen kennenzulernen. Da war die Basler Mission ein geeigneter Ort, um diesen Bedürfnissen nach Sinn und nach Neuem gerecht zu werden.
Und wie standen Ihre Eltern zum Missionieren?
Die Menschen in Afrika als ungläubige Heiden zu betrachten und sie deshalb vom christlichen Glauben überzeugen zu wollen, war meinen Eltern fremd. Ich glaube, da haben sie sich am ursprünglichen Auftrag der Basler Mission vorbeigemogelt. Mein Vater war als Kaufmann ein guter Organisator und fand seine berufliche Erfüllung in Ghana als Seminarleiter und nicht im Missionieren.
Sie haben die Kindheit bis zur Einschulung in einem fremden Land verbracht. War die Familie ins afrikanische Umfeld integriert oder verkehrte sie nur in der europäischen Gemeinschaft?
Obwohl wir die «weissen Missionarskinder» waren, fühlte ich mich nie als etwas Besonderes. Unsere Familie pflegte den Kontakt zur afrikanischen Bevölkerung, insbesondere bei festlichen Anlässen. Der Palmsonntag ist mir in besonderer Erinnerung. Da wurden mit Palmzweigen kunstvolle Geflechte angefertigt und mit farbigen Bändern verziert. Im Rahmen eines Umzugs prozessierten die Frauen mit ihren Kunstwerken wedelnd, singend und tanzend durch das Dorf. Dass eine Missionarsfamilie Bedienstete hatte, gehörte einfach dazu, das hatte niemand hinterfragt. Auch mit ihnen wurde in meinem Elternhaus ein stets freundschaftlicher Umgang gepflegt. So waren mir afrikanische Lebensgewohnheiten schon früh vertraut.
Hatten Sie afrikanische Freundinnen zum Spielen und lernten Sie die lokale Sprache Twi des Ashanti-Volks?
Ich konnte ohne Probleme in der einheimischen Sprache Twi (gesprochen «Tschwi») reden. Ich erlaubte mir sogar ab und zu, meine Eltern dabei zu korrigieren. Meine Puppen band ich, wie dies bei afrikanischen Frauen mit ihren Kleinkindern üblich war, mit einem Tuch auf den Rücken. Laut den Erzählungen meiner Mutter sei ich mit dem Waschen meiner Puppenkleider oft stundenlang beschäftigt gewesen. Und zum Trocknen habe ich die Wäsche nicht etwa aufgehängt, sondern, wie es eben die afrikanischen Frauen machten, an der Sonne auf einem Tuch ausgebreitet. Meine Kinderbücher trug ich nicht in der Hand oder unter dem Arm, sondern auf dem Kopf. Eine wichtige Bezugsperson war unsere Nachbarin Missis Ntifro. Ich konnte mich auch später sehr genau daran erinnern, wie ich mit ihr vor dem Spiegel sass und ihr zuschaute, wie sie kunstvoll ihr Kopftuch drapierte.
Sie sind in Afrika geboren. Ihre Geschwister ebenso?
Während meiner Afrikazeit bekam ich drei Geschwister. 1953 wurde Markus geboren. 1955 kam Thomas auf die Welt. Leider erkrankte er in dieser tropischen Umgebung an einer Hirnmalaria und ist kurz vor seinem ersten Geburtstag verstorben. 1957 durften Markus und ich dann unseren Bruder Andreas bestaunen.
Wie wurde die Verbindung zur Schweiz gepflegt – kam Besuch, ging man auf Heimatbesuch?
Wir waren in Ghana manchmal von der Aussenwelt abgeschnitten, aber nie einsam, sondern eingebettet in die lokale Gemeinschaft. Die Verbindung zur Schweiz beschränkte sich hauptsächlich auf einen intensiven Briefwechsel, den meine Mutter mit der Familie in der Schweiz pflegte. Zwei mehrwöchige Heimurlaube fanden ebenfalls statt. Mein Grossvater Karl Gehr-Dürr war Lehrer in Basel und hatte sich für ein Quartal von der Schule beurlauben lassen, um uns zu besuchen. Es war ein mutiges Vorhaben, stiess er doch damit zur damaligen Zeit auf viel Unverständnis.
Gab es bei Besuchen oder nach der Rückkehr in die Schweiz Dinge, an die Sie sich zuerst gewöhnen mussten?
Meine Grosseltern mütterlicherseits wohnten in Basel an der Friedensgasse, wo wir uns mit den ersten europäischen Lebensgewohnheiten vertraut machten. Mein Bruder Markus und ich warteten täglich am Fenster, bis der Milchmann, die Gemüsefrau und der Briefträger vorbeikamen und zuletzt auch noch der Mistkübelwagen durch die Strassen fuhr und die Abfallkübel geleert wurden. Unsere Konversation war in Twi. Dass uns die Familienangehörigen nicht verstehen konnten, fanden wir natürlich sehr lustig. Bei den Besuchen wurden wir jeweils als die armen Missionskinder behandelt, denen man besonders viel Sorge tragen musste. Das empfand ich oft als sehr unangenehm. Ausserdem war es in der Schweiz bitterkalt und die wollenen Strumpfhosen und Pullover waren für uns ungewohnt und kratzten fürchterlich.
Ihre Mutter Rosmarie berichtete später, wie sehr sie der Aufenthalt in Ghana geprägt habe. Welche Bedeutung hatte im Rückblick Ihre Kindheit in Afrika für Sie?
Wie oft ist in einem Lebenslauf von einer unbeschwerten und glücklichen Kindheit zu lesen! Auch ich hatte Eltern, die uns mit viel Liebe, Geduld und Hingabe umsorgten. Doch unbeschwert war das Leben in Afrika nicht immer. Es war geprägt von bedrohlichen Einflüssen: die Gefahr, an Malaria zu erkranken, das Abgeschnittensein während der Regenzeit, überall giftige Schlangen, Skorpione und Spinnen, immer nur abgekochtes Wasser trinken, selbst zum Zähneputzen, oft die Begegnung mit dem Tod und einiges mehr; dies alles gehörte zu den unangenehmen Schattenseiten in Afrika. Ein oft übervorsichtiges Verhalten und Ängste haben sich mir eingeprägt und mich ein ganzes Leben lang begleitet.
Wurde das der Familie irgendwann zu viel?
All diese Schattenseiten und das tropische Klima, das unsere Gesundheit immer mehr beeinträchtigte, waren ausschlaggebend für die Rückkehr in die Schweiz. Im Dezember 1957 kehrte meine Mutter mit uns drei Kindern zurück nach Basel, wo wir bei unseren Grosseltern liebevoll aufgenommen wurden. Mein Vater wollte das Semester mit seinen Studierenden abschliessen und kam erst im Juni 1958 nach.
Ist es also eher belastend, ein Missionskind zu sein?
Ich habe kein Problem damit, dass ich in Ghana zur Welt kam und meine ersten Lebensjahre dort verbracht habe. Wenn ich aber nach dem Grund dieses Afrikaaufenthalts gefragt werde, dann muss ich gestehen, dass ich dies jeweils mit grosser Zurückhaltung beantworte.
Weshalb?
Mein Vater war, wie gesagt, kein Missionar im Wortsinn. Dazu kam, dass die Basler Mission meine Eltern unter Druck setzte, weiter in Ghana zu arbeiten und uns Kinder in der Schweiz zurückzulassen. Und als Heimkehrer erhielten wir von der Basler Mission keinerlei Unterstützung. Deshalb weckt das Wort «Mission» in mir ungute Gefühle.
Haben Sie heute noch persönliche Beziehungen zu Personen in Ghana und haben Sie dieses Land später wieder besucht?
Ja, ich war 1999 zusammen mit meiner Mutter nochmals in Ghana, als die Erweiterung des Seminargebäudes eingeweiht wurde. Ich spürte keinen Faden, den ich dort hätte wieder aufnehmen können. Ich empfand keine Heimatgefühle. So merkte ich nach meiner Rückkehr ernüchtert, dass dieses Kapitel für mich abgeschlossen ist. Die Eindrücke und Erinnerungen bleiben, aber dass es mich immer wieder dorthin zurückzieht – diese Sehnsucht habe ich nicht. Einzig das Projekt «Chance for Children», das von der Schweizerin Daniela Rüdisüli aufgebaut wurde und die ich persönlich kenne, unterstütze ich nach wie vor.
Zur Person
mma. Christine Tschudin wurde 1951 als Tochter des Pfarrer-Ehepaars Oskar und Rosmarie Tschudin-Gehr (1921–1997 bzw. 1928–2010) in Ghana in Westafrika geboren und wuchs dort zusammen mit drei Geschwistern auf. Zurück in der Schweiz, lebte die Familie ab 1959 in Gächlingen (SH) und ab 1966 in Sissach, wo Oskar Tschudin bis 1987 als reformierter Pfarrer wirkte. Christine Tschudin absolvierte in Basel die Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin. Während einiger Jahre unterrichtete sie an verschiedenen Orten und auf unterschiedlichen Schulstufen. Zwischendurch unterbrach sie ihre Lehrtätigkeit, um in einem grossen Kinderheim als hauswirtschaftliche Betriebsleiterin zu wirken. Von 1991 bis zu ihrer Pensionierung war Christine Tschudin während 21 Jahren Schulleiterin der Hauswirtschaftlichen Fachschule am damaligen Landwirtschaftlichen Zentrum Ebenrain in Sissach.
Die Basler Mission in Ghana
mma. Die damalige Goldküste, eine britische Kolonie, war für die Basler Mission (heute «Mission 21») seit 1828 ein wichtiges Einsatzgebiet, um die «Heiden» zum Christentum zu bekehren. 1921 wurde für Ghana die Handelsgesellschaft Union Trading Company (UTC) gegründet, von deren Gewinn ein Teil an die Basler Mission floss. Mission und UTC waren Teil der europäischen Kolonisation Afrikas. Neben Religion und Handel beinhaltete diese aber auch den Betrieb von Spitälern und Schulen.
Als die Familie Tschudin 1950–1958 in Ghana weilte, hatte sich die koloniale Situation bereits stark verändert. Die Leitung der Missionsinstitutionen war – mit Ausnahme des Spitals – nun in den Händen der Presbyterianischen Kirche von Ghana, die Basler Mission hatte ihre dominierende Rolle abgegeben. Politisch hatte Grossbritannien seit 1925 die ghanaische Selbstverwaltung schrittweise ausgebaut. 1954 wurde das Frauenstimmrecht eingeführt. 1957 befreite sich Ghana unter dem charismatischen Führer Kwame Nkrumah als erstes afrikanisches Land von der Kolonialherrschaft Grossbritanniens.