Die Verbindung, die bleibt
24.06.2025 SissachDas ist Sissach (24. Teil) | Was Alan Cassidy von Sissach geblieben ist
Alan Cassidy wuchs in Sissach auf und wohnt in Basel. Der frühere Journalist und Mitarbeiter der «Volksstimme» schildert als Antwort auf Zuzüger Hans-Peter Gsell seine ...
Das ist Sissach (24. Teil) | Was Alan Cassidy von Sissach geblieben ist
Alan Cassidy wuchs in Sissach auf und wohnt in Basel. Der frühere Journalist und Mitarbeiter der «Volksstimme» schildert als Antwort auf Zuzüger Hans-Peter Gsell seine Verbundenheit zum Dorf seiner Jugend.
Alan Cassidy
Vor ein paar Wochen, an einem der ersten richtig warmen Abende des Jahres in Basel, ging ich nach dem Znacht noch eine Runde spazieren, über den Hügel des Bruderholz. Ohne Ziel, einfach so. Und plötzlich war er da – dieser Geruch. Nach trockener Wiese, warmem Heu, nach einer Sommernacht auf dem Land. Wenn dieser Geruch da ist, dann ist sofort auch alles andere da: meine Kindheit und Jugend, eine gewisse Unbeschwertheit, das Gefühl, dass noch alles möglich ist und nichts festgelegt.
Es gibt zu diesem Geruch ein Bild, das jeweils in meinem Kopf aufsteigt: die Sissacher Fluh. Wer in Sissach aufgewachsen ist, kennt sie aus jedem Winkel. Vom Bahnhof aus, von den Tennisplätzen, von der Rheinfelderstrasse, wo mein Schulweg entlangführte. Die Fluh ist keine dramatische Erscheinung, kein Matterhorn, kein Alpenkranz. Aber mir reichte es schon, dass sie immer da war, wie ein Bühnenbild, das nie gewechselt wird.
Inzwischen bin ich seit mehr als 20 Jahren weg aus Sissach. Ich habe in Zürich studiert, in den Vereinigten Staaten gelebt, bin in Basel sesshaft geworden. Aber wenn ich an Heimat denke – nicht als Adresse, sondern als Gefühl –, dann steht irgendwo in diesem inneren Bild immer noch die Fluh.
Sissach war nie ein Ort, aus dem man fliehen musste. Es war ein Ort, aus dem man irgendwann einfach losging. Ich bin mit 20 in eine Wohngemeinschaft nach Basel gezogen. Praktische Gründe, vier Geschwister, die sich drei Zimmer teilen mussten. Und trotzdem ging ich die ersten Jahre fast jeden Sonntag zurück – zum Zmittag. Heimgehen, haben wir gesagt. Obwohl ich schon weg war.
Alles, was man brauchte
Was ich mochte an Sissach, damals: Dass es alles hatte, was man brauchte. Eine Badi, einen Computerladen (der mir meinen ersten Nebenjob verschaffte), Wälder mit Wegen, die man kannte wie das eigene Zimmer. Die Ergolz mit ihren zwei Gesichtern: sanft und badetauglich beim Dorfeingang Richtung Böckten, urban und hallend unter der Autobahnbrücke am anderen Ende, beim Tenniscenter. Dort nahm mich mein Onkel einmal mit, um einen Eisvogel zu sehen. Ich erinnere mich daran, wie wir flüsterten, obwohl niemand in der Nähe war.
Und dann das Naturschutzgebiet, ebenfalls Richtung Böckten, wo wir Kaulquappen fingen. Und wo ich zum ersten Mal etwas mitbekam von dem, was man später Politik nennt. Als die Umfahrung geplant wurde, sammelten Nachbarn bei uns im Quartier Unterschriften dagegen. Ich wusste nicht genau, worum es ging. Aber es betraf den Teich, die Wiese – das genügte.
Sissach war nicht gross. Aber gross genug. Man konnte sich bewegen, herumstreunen, verlieren sogar – ohne verloren zu gehen. Oft war ich mit meinem besten Freund unterwegs. Wir zogen nächtelang durch das Dorf, sassen am Waldrand, redeten über das Leben, das noch nicht begonnen hatte. Wir brauchten nicht viel Raum, um uns frei zu fühlen.
Und wenn man wollte, war man später, als Jugendlicher, in 15 Minuten in der Stadt. Ich glaube, das hat mich geprägt: das Wissen, dass die Welt offensteht. Und dass sie trotzdem in der Nähe bleibt.
Wer einmal wegzieht, lernt schnell, dass nicht nur Distanzen, sondern auch Massstäbe verrutschen. Als ich in den USA lebte, spürte ich zum ersten Mal, was es heisst, nicht einfach heimzukönnen. Keine Viertelstunde mit dem Zug, sondern Stunden, Flüge, Zeitverschiebung. In Sissach – wie in der ganzen Schweiz – war alles nah. Familie, Freunde, Kollegen. Diese Nähe prägt. Vielleicht ist sie sogar das, was wir später Heimat nennen.
Während meiner Zeit in den USA schrieb ich eine Kolumne für die «Volksstimme». Eine Verbindung in die alte Heimat – und eine Übung in Perspektive. Je weiter ich weg war, desto klarer wurde mir, wie sehr mein Denken, mein Ticken, mein Tonfall von diesem Ort geprägt war. Nicht unbedingt durch grosse Dinge. Sondern durch das Kleine, Verlässliche. Auch mein Dialekt gehört dazu. Ich habe ihn nie bewusst gepflegt, wie das andere vielleicht machen
– er ist einfach geblieben.
Wenn ich heute nach Sissach komme, dann ist da zuerst dieses vertraute Gefühl: Ich kenne jede Ecke. Meine alten Schleichwege. Den Coop, das «Pöb», den Spielplatz, auf den ich heute meine Kinder mitnehme. Und dann spaziere ich durch ein neues Quartier – dort, wo früher eine Wiese war. Und merke: Ich kenne doch nicht mehr alles.
Grösser, urbaner, moderner
Das Dorf hat sich verändert, wie sich Dörfer eben verändern. Es ist gewachsen. Verdichtet. Ein bisschen urbaner geworden. Es hat neue Gebäude und Läden, einen neuen Bahnhof. Es ist moderner – aber immer noch Sissach. Die Ergolz fliesst immer noch durchs Dorf. Die Fluh steht immer noch, wo sie stand. Aber die Welt drumherum hat sich weitergedreht.
Was ich manchmal vermisse, wenn ich da bin, hat weniger mit Ort als mit Zeit zu tun. Ich vermisse meine Jugend. Dieses Gefühl, dass alles noch offen ist. Dass die Sommer ewig dauern. Das kann einem kein Ort zurückgeben – auch nicht der vertrauteste. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich weitergezogen bin. Nicht, weil das Dorf zu klein war. Sondern weil es gut war, zu wissen, dass man gehen kann – und trotzdem willkommen bleibt.
Alan Cassidy, Jahrgang 1983, ist in Sissach aufgewachsen. Er hat als Journalist unter anderem für die «Volksstimme», die «Basler Zeitung», den «Tages-Anzeiger» und die «NZZ am Sonntag» gearbeitet. Er lebt heute mit seiner Familie in Basel.
Die nächsten Jubiläumsanlässe
Laufend: Alte Gemälde und Zeichnungen hängen im Gemeindehaus aktuellen Fotografien des Theaterfotografen Ernst Rudin (70) gegenüber. Die Ausstellung kann zu den Schalteröffnungszeiten im Gemeindehaus besichtigt werden.
Laufend: Erlebnispfad der Bürgergemeinde. Erreichbar mit Bus 106 ab Bahnhofsplatz Sissach bis Station Hinteregg.
26. und 27. Juni: «Jazz uf em Strich» auf dem «Cheesmeyerplatz» in der Begegnungszone.