Die Magie des Drachenfliegens – eine Reise durch Zeit und Kulturen
02.11.2023 SissachVon weltweiten uralten Traditionen und modernem Freizeitspass
Die faszinierende Geschichte der Drachenfliegerei überspannt Jahrhunderte und Kontinente. Auch heute noch ist sie ein Hobby, das Jung und Alt begeistert. Doch Drachen waren einst viel mehr als nur Spielgerät.
...Von weltweiten uralten Traditionen und modernem Freizeitspass
Die faszinierende Geschichte der Drachenfliegerei überspannt Jahrhunderte und Kontinente. Auch heute noch ist sie ein Hobby, das Jung und Alt begeistert. Doch Drachen waren einst viel mehr als nur Spielgerät.
Ruedi Epple
Die Nächte brechen wieder früher herein. Die Abende und Morgen sind jetzt kühler. Die Bauern haben einen Teil ihrer Kulturen bereits geerntet. Die Felder liegen für Tage oder Wochen brach, bevor man sie für den Winter vorbereiten wird. In meiner Jugend waren es diese Wochen im Spätsommer oder Frühherbst, als wir in der Sissacher Papeterie Pfaff buntes Papier und Wasserglas kauften, in Vaters Werkstatt nach schmalen Holzleisten suchten und uns daraus einfache Drachen bauten.
Mit der ausgeliehenen Fischerschnur gingen Reto Graf und ich dann zum Kienberg hoch, wo wir unser Fluggerät zum Himmel steigen liessen. Die Abt-Brüder hatten ihren Flugplatz auf dem Feld neben dem Tennisplatz in der «Grienmatt». Bei ihnen sah ich erstmals Kastendrachen. Drachen wurden und werden weltweit geflogen. Doch was heute ein Spielzeug oder Sportgerät ist, konnte in anderen Weltgegenden und zu anderen Zeiten auch eine religiöse Bedeutung haben – oder ein praktisches Werkzeug sein.
Drachen, so nimmt man an, hatten ihren Ursprung vor Jahrtausenden im ostasiatischen Raum. In China und Japan gibt es bis heute eine lange und vielfältige Drachentradition. Jährlich stattfindende Drachenfeste, an denen Jung und Alt teilnehmen, bilden jeweils den Höhepunkt. So etwa in Weifang, einer Stadt in China, wo im April Hunderte von Drachen in den Himmel steigen. In Japan kommt es an vergleichbaren Festivals auch zu friedlichen Wettkämpfen zwischen Grossdrachen von mehreren Metern Spannweite. Diese brauchen, um zu steigen, mehrköpfige Mannschaften, die wie beim Seilziehen gemeinsam die Flugleine halten. Ziel der Kämpfe ist es, durch die eigenen Flugmanöver den Drachen der gegnerischen Mannschaft zum Absturz zu bringen, etwa indem man diesen aus dem Wind kippt.
Häufig sind japanische Drachen mit bunten Darstellungen von Samurai-Rittern bemalt. Diese blicken oft grimmig, weil sie am Himmel böse Geister vertreiben sollen. Aus China stammen Drachen, die aus zahlreichen hintereinander gebundenen runden Scheiben bestehen. Diese tragen den Kopf eines feuerspeienden Drachens, den wir als Fabelwesen auch bei uns kennen. Doch die begriffliche Übereinstimmung zwischen dem Fabelwesen und dem Fluggerät ist eine Eigenheit des Deutschen.Andere Sprachen unterscheiden beides: So heisst das Fabelwesen im Englischen zwar ähnlich wie bei uns «Dragon», doch unseren Drachen nennt man «kite», was auch den Milan, einen Greifvogel, bezeichnet. In Frankreich wird das Fluggerät «cerf-volant» geheissen, was Hirschkäfer bedeutet.
Kampfdrachen
Drachen, die friedlich miteinander kämpfen, kennt man auch in Südasien, so etwa in Afghanistan oder Indien. In Ahmedabad, einer indischen Grossstadt, fliegt man kleine und leichte Drachen zu gewissen Zeiten von Dachterrassen aus. Zuvor hat man die Drachenleinen an ihrem oberen Ende mit Glasstaub und Leim geschärft. Beim Fliegen legt man es darauf an, die Leine eines anderen Drachens zu kreuzen und mit raschen Bewegungen zu durchtrennen. Den Kampf verloren hat jener Drachen, der zu Boden fällt.
Indische Kampfdrachen lassen sich mit einer Leine steuern. Sie brauchen nicht zwei Leinen wie unsere modernen Lenkdrachen. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man etwas Drachentechnik kennen: Flache Drachen brauchen für einen stabilen Flug einen Schwanz. Damit unterscheiden sie sich von Kasten-, Bogenoder flexiblen Drachen. Bei diesen sorgen vertikal im Wind stehende Teile wie etwa ein Kiel oder ein Bogen für die nötige Stabilität.
Kampfdrachen sind nun Flachdrachen mit leicht biegbaren Querstäben. Zieht man an der Schnur, biegen sich diese durch die Windkraft zurück, bilden einen Bogen und verleihen dem Drachen dadurch eine kurze Phase der Stabilität. Lässt der Zug der Leine nach, wird der Drachen wieder flach und damit instabil. Das Steuern besteht darin, zwischen instabilen und stabilen Phasen zu wechseln und dem Drachen dann Zug zu verleihen, wenn er sich in seiner instabilen Phase zufällig in die gewünschte Richtung ausrichtet.
Spiel- und Werkzeug
Bei uns sind die Drachen seit Jahrhunderten vor allem als Spielzeug für Kinder bekannt. Doch setzte man Drachen früher auch zu praktischen Zwecken ein. Benjamin Franklin untersuchte damit die Elektrizität in Gewitterwolken und erfand dabei den Blitzableiter. Kastendrachen trugen meteorologische Messgeräte in höhere Luftschichten. Waren sie mit Fotoapparaten ausgerüstet, konnten sie archäologische Fundstellen erkunden. Samuel Franklin Cody flog an der gleichen Leine mehrere Kastendrachen hintereinander. Die starken Zugkräfte, die dabei entstanden, waren in der Lage, Menschen zu tragen. Cody empfahl sein System den Militärs als luftigen Beobachtungsposten.
Eine der ersten wissenschaftlichen Studien, die sich mit «diesem Spielzeug» befasste, entstand 1756 in Berlin. Autor war Johann Albrecht Euler, der älteste Sohn des berühmten, aus Basel stammenden Mathematikers Leonhard Euler. Johann Albrecht war erst 22-jährig, als er die an einem Drachen angreifenden Kräfte von Wind, Gewicht, Zug und Auftrieb studierte. Wie sein Biograf feststellte, enthielt diese Arbeit «feine Bemerkungen», doch beruhte «der mathematische Ansatz auf unzureichenden Grundlagen». Dieser Mangel weist darauf hin, dass sich der Sohn unabhängig vom väterlichen Genie Leonhard Euler an diese Aufgabe gewagt hatte. Hinter anderen Arbeiten des Sohns soll immer auch der «Alte» gesteckt haben, wie Experten wissen. Ob sich der junge Euler auch als junger Erwachsener noch danach sehnte, einen Drachen steigen zu lassen, statt dem Mathematik- und Physikunterricht des genialen Vaters zu folgen?
Fische und Seelen
Auch in anderen Weltgegenden waren Drachen nicht nur Spielzeug. So brauchte man sie in der Südsee etwa zum Fischen. Statt eines Schwanzes trugen die Drachen eine Angelschnur, an der ein Köder hing. Das Auf und Ab des fliegenden Drachens liess den Köder über die Wasseroberfläche hüpfen und imitierte damit den Flug der Beute, auf die es die Hechte abgesehen hatten. Biss ein Fisch zu, verfing er sich am Köder. Um den Fang zu sichern, kam es jetzt darauf an, rasch zuerst den Drachen und danach die Angelschnur einzuziehen. Offenbar meisterten die Fischer diese Aufgabe jeweils schnell genug, sonst hätten sie das Drachen-Fischen wohl kaum praktiziert.
Eine andere Aufgabe, welche die Ureinwohner der Südseeinseln mithilfe von Drachen lösten, war die Wettervorhersage. Um zu benachbarten Inseln zu gelangen, mussten sie sich mit kleinen Booten aufs offene Meer wagen. Es war unter solchen Umständen gut zu wissen, wie sich das Wetter in den nächsten Stunden oder Tagen entwickeln würde. Mit Drachen konnte man herausfinden, ob der Wind in oberen Luftschichten bereits gedreht hatte. Wer Drachen zu bauen und ihren Flug zu interpretieren wusste, konnte daher einen religiösen Status erhalten, denn er stand mit jenen Kräften in Verbindung, die über Wind und Wetter herrschten.
Einen andere religiöse Bedeutung erhalten Drachen im Hochland Guatemalas. In den Dörfern Sumpango und Santiago bauen die Menschen grosse, runde und bunte Drachen aus Papier und Bambus. Diese lassen sie jeweils an Allerheiligen und Allerseelen auf den Friedhöfen steigen. Die Absicht des Zeremoniells, das den katholischen Glauben mit der alten Maya-Kultur verknüpft, ist es, den Seelen der Verstorbenen beizustehen. Sie sollen leichter ins Himmelreich finden.
Nichts denn Freude
Heute sieht man in unserer Gegend im Herbst kaum mehr Drachen flattern. Das Basteln und Fliegenlassen dieses Fluggeräts ist aus der Mode gekommen. Hingegen haben Drachen eine neue Bedeutung als Sportgeräte erhalten. Skifahrerinnen und Skifahrer oder Surferinnen und Surfer lassen sich von modernen flexiblen und zugkräftigen Drachenmodellen, sogenannten Matten, über den Schnee oder das Wasser ziehen. Auch sind Drachen in Küstengegenden, wo die Windverhältnisse zuverlässiger sind, nach wie vor häufig anzutreffen. Meist treten sie dort in modernen Formen auf und sind aus neuen Materialien gefertigt – darunter etwa mit zwei oder vier Leinen gesteuerte Hightech-Modelle. Man kann am Strand aber auch fliegenden Händlern begegnen, die bunte und einfach gefertigte Kleindrachen im Angebot haben.
Die Freude am Drachenfliegen in meiner Jugendzeit kramte ich vor rund 40 Jahren wieder hervor, als meine Kinder ins Schulalter kamen. Es gelang mir nicht auf Anhieb, einen Drachen in die Luft zu bringen. Doch liess ich nicht locker, und siehe da, nach mehreren Versuchen hatte ich Erfolg. Seither baue und fliege ich immer wieder Drachen. Längst brauche ich keine Kinder mehr, die als Entschuldigung dafür herhalten müssen, dass ihr Vater spielt.
In meiner Sammlung habe ich inzwischen fast für jede Windstärke ein Modell, das passt: Kastendrachen für stärkere, Flachdrachen mit Schwanz für mittlere und Deltas oder Genkis für leichte Winde. Auch verwende ich heute nicht mehr nur Papier und Holz, sondern auch Ripstop-Nylon und Kohlefaserstäbe. Ich habe dazu auch den Umgang mit einer Nähmaschine erlernt.
Vom Fliegen nur im Herbst bin ich längst abgekommen. Ich lasse Drachen steigen, wenn der Wind ausreicht und ich Lust dazu habe, was auch zu anderen Jahreszeiten der Fall sein kann. Dabei fliege ich praktisch nur Einleiner. Die modernen Lenkdrachen mit zwei Flugleinen sind nicht meine Sache. Wenn ich Drachen steuern will, halte ich mich an die anspruchsvollen indischen Kampfdrachen. Meistens ziehe ich aber das meditative Spiel mit Wolken, Wind und Wetter dem hektischen Figurenfliegen vor. Ein alter Freund meinte einmal, Drachenfliegen sei wie Fischen aufwärts. Richtig, mir genügt oft eine Stunde Konzentration auf den Flug einer meiner Drachen, um zu entspannen, Spielfreude zu empfinden und Kraft zu tanken. Doch gibt es zum Fischen einen wesentlichen Unterschied: Während bei diesem ab und zu etwas zum Essen abfällt, kommt beim Drachenfliegen ausser Freude nichts heraus.
Ruedi Epple ist Historiker. Er lebt in Sissach.