Die Insel der Glückseligen
25.11.2025 SissachBürgergemeindeversammlung – eine Reportage
Mehr als 10 Prozent der Sissacher Bürgerinnen und Bürger besuchen jeweils die Bürgergemeindeversammlung – verglichen mit anderen Versammlungen ein überdurchschnittlich hoher Anteil. Warum ist das so? Ein ...
Bürgergemeindeversammlung – eine Reportage
Mehr als 10 Prozent der Sissacher Bürgerinnen und Bürger besuchen jeweils die Bürgergemeindeversammlung – verglichen mit anderen Versammlungen ein überdurchschnittlich hoher Anteil. Warum ist das so? Ein Erklärungsversuch.
Heiner Oberer
Vergangenen Donnerstag. Der Sissacher Bürgerrat (BR) lädt zur Bürgergemeindeversammlung (BGV) in den Jakobshof ein. Die Traktandenliste ist überschaubar und verspricht wohl keine platzenden Bomben. Aber man weiss ja nie, was die hohen Rätinnen und Räte unter Diversa aus dem Immobilien-Köcher zaubern. Die Damen und Herren des Bürgerrats sind bekanntlich immer für eine Überraschung gut.
Der Saal des Jakobshofs füllt sich langsam. Die zahlreichen Zeichnungen des Sissacher Künstlers Paul Wirz (1892–1980) mit Ansichten von Alt-Sissach verleihen dem Raum einen Hauch einer Galerie. Hände werden geschüttelt. Küsschen verteilt. Es wird gelacht. Man kennt sich. Der Aufmarsch überrascht. Es müssen zusätzlich Stühle bereitgestellt werden. Schliesslich sind es 79 Sissacher Bürgerinnen und Bürger von rund 670, die in Sissach wohnhaft sind, die der Einladung gefolgt sind.
«Toll, dieser Aufmarsch», bemerkt mein Stuhlnachbar. Er wundere sich immer wieder, wie zahlreich sich die Sissacher die Ehre geben. Er könne nur spekulieren. Ist es demonstrativ gezeigte Wertschätzung für den BR? Sind es die Einbürgerungen oder Traktanden, auf die man gespannt ist? Oder ist es – und jetzt lacht der Nachbar – der im Anschluss an die Versammlung gereichte Apéro? «Schwierig», denke ich. «Muss wohl eine Mischung aus allem sein.»
Die Bürgergemeinde
Um das Wesen der Bürgergemeinde(n) zu verstehen, müssen wir uns kurz in die Zeit der Französischen Revolution (1789–1799) versetzen. Zu dieser Zeit war die Landschaft Basel und somit auch Sissach Untertanengebiet der Stadt Basel. Die Gemeinden waren noch nicht in Einwohner- und Bürgergemeinde aufgeteilt. Als Bürger galt damals, wer das Vieh auf die gemeinsame Weide trieb und sich an den Fronarbeiten im Wald, an Weg und Steg beteiligte. Neue Zuzüger, meistens Taglöhner und Posamenter, konnten, wenn es den Ansässigen passte, als Hintersassen (Einsassen) aufgenommen werden. Besser erging es Handwerkern und Beamten, die über etwas Vermögen verfügten. Die konnten – auf das Wohlwollen der Bürger angewiesen – das Bürgerrecht erlangen.
Als die noblen Herren in Basel 1798 das Untertanenverhältnis aufhoben, erhielt der Begriff Bürger eine neue Bedeutung. Die Baselbieter waren nun den Städtern gleichgestellt.
Nach der Trennung von Basel war gemäss Verfassung von 1832 im noch jungen Kanton Baselland die Bürgergemeinde die eigentliche Gemeinde. Die Einsassen (Nichtbürger) hatten wenige Rechte, vor allem kein passives Wahlrecht (Wahl in ein politisches Amt). Erst im Jahr 1850 wurden auch die übrigen in Sissach wohnenden Schweizer Bürger in Kantonsfragen stimmberechtigt. Zu dieser Zeit nahmen nur Ortsbürger Einsitz in den Gemeinderat. Das änderte sich mit dem neuen Gemeindegesetz aus dem Jahr 1881. Die Einwohnergemeinde wurde zur politischen Gemeinde, während der Bürgergemeinde nur noch zweitrangige Bedeutung zukam.
Die Begrüssung
Zurück in die Gegenwart. Pünktlich um 20 Uhr ergreift Bürgerratspräsident Christoph Tschan das Wort. Als erste präsidiale Amtshandlung bestimmt er zwei Stimmenzähler. Wobei «bestimmen» in diesem Zusammenhang wirklich zutrifft, haben die zwei Auserkorenen doch nicht den Hauch einer Chance, die Wahl abzulehnen.
Anschliessend wird das Beschlussprotokoll der Bürgergemeindeversammlung vom 8. Mai 2025 einstimmig und ohne Wortmeldung genehmigt, was Bürgerratsschreiberin Uta Schabacker mit einem zaghaften Lächeln quittiert. Apropos Frauen: Im Gegensatz zum alljährlichen Sissacher Bannumgang sind im fünfköpfigen BR Frauen willkommen: Meret Hänggi, Vizepräsidentin, zuständig für die Einbürgerungen, und Uta Schabacker als Bürgerratsschreiberin. Sie bringen viel weibliches Flair und Charme in den männerdominierten Bürgerrat.
Die Einbürgerungen
Auch die Einbürgerungen gehen schmerzlos über die Bühne. Kompetent und mit tolerierbarem Schalk stellt Meret Hänggi die 18 Einbürgerungswilligen aus dem Kosovo, der Schweiz, aus Deutschland, der Côte d’Ivoire und Portugal vor. Artig erheben sich die Aufgerufenen und grüssen die Versammlung.
Was auffällt, sind die zahlreich erschienenen Kinder, denen von den Eltern wohl eingebläut wurde, sich ruhig und brav zu verhalten – was die Kleinen auch vorbildlich machen. Ein grosser Teil der Einzubürgernden gibt als Freizeitbeschäftigung Fussball an. Sollte der Bürgerrat dereinst planen, eine Fussballmannschaft auf die Beine zu stellen: Der Nachwuchs steht bereit. Nur bei der Freizeitgestaltung des Ehepaars aus der Schweiz geht ein Murmeln durch den Saal. Und ein Versammlungsteilnehmer stellt leise, aber gut vernehmbar die Frage: «Können die beiden überhaupt eingebürgert werden, obwohl sie kein Fussball spielen?» Gelächter.
Das Budget
So. Und jetzt zum Geld. Zu viel Geld. Das Budget 2026 steht an. Der Gesichtsausdruck von Stephan Zimmermann, verantwortlich für den Geldsäckel der Bürgergemeinde, stimmt einen froh. Sein zufriedenes Lächeln verströmt Zuversicht.
Und so ist es: Bei einem Aufwand von 1 104 700 Franken und einem Ertrag von 1 646 950 Franken bleibt ein hübscher Überschuss von 542 250 Franken im bürgereigenen Portemonnaie zurück. Also: Friede, Freude, Eierkuchen. Die Zuversicht des Finanzchefs wird nur durch das Votum eines besorgten Bürgers etwas getrübt.
Er mahnt den Bürgerrat, dass – sollte die Grube Strickrain dereinst versiegen – fertig sei mit lustig. Die Grube, wo Abbruchmaterialien / deklarierte Inertstoffe entsorgt werden, erweist sich schon seit Jahren als wahre Goldgrube und schwemmt in die Bürgerund Gemeindekasse jeweils mehr als 1 Million Franken.
Die Wohltäter
Aber – und jetzt wird der Gesichtsausdruck von Stephan Zimmermann eine Spur ernster: «Die Bürgergemeinde scheffelt kein Geld, um es auf die hohe Kante zu legen. Es wird immer wieder investiert.» So ist die Bürgergemeinde im Besitz von zahlreichen Immobilien, wie zum Beispiel der Wacht an der Hauptstrasse, des Heimatmuseums, des Hauses Struwwelpeter an der Hauptstrasse 104, eines Einfamilienhaus am Römerweg und des Holzschopf, des heutigen Werkhofs der Bürgergemeinde.
Zudem ist der Häuserkomplex an der Zunzgerstrasse 8 und 12, der das Restaurant Linde mit Wirtewohnung, die Metzgerei Häring sowie ein frei stehendes Haus beheimatet, im Besitz der Bürgergemeinde. Ebenso das im Jahr 1750 erbaute Restaurant Schwyzerhüsli, im Volksmund «Stöpli», das Cinéma Palace und seit Neuestem das im Jahr 1896 erstellte Gewerbehaus samt Lager und Produktionshalle und Innenhof, der Hauptsitz der Weinhandlung Buess AG, und die im Jahr 1895 erstellte Liegenschaft an der Hauptstrasse 34, die ursprünglich als Herrschaftshaus konzipiert war. Dies sind alles Objekte, die – wären sie einem windigen Spekulanten in die Hände gefallen – heute wohl dem Erdboden gleichgemacht worden wären. Grosser Beliebtheit erfreut sich auch der Erlebnispfad Sissach und der Waldspielplatz im Tännligarten, sagt Zimmermann.
Diverses
Statt einer unerwarteten Ankündigung über den Kauf einer weiteren Liegenschaft oder der Übernahme eines Hotels meldet sich wieder der besorgte Bürger von eben. Mit belegter Stimme macht er sich für die vermeintlich desolaten Türen im «Stöpli» stark. Die beiden Türen seien schlicht eine Zumutung, argumentiert er. Der Wind blase durch die Ritzen, was bei den älteren Gästen zu rheumatischen Anfällen führen könne, zeigt sich der Votant besorgt. Doch sein Anliegen findet beim Bürgerrat im Moment kein Gehör. So müssen die «Stöpli»- Gäste weiterhin mit den zugigen Verhältnissen fertigwerden.
Nachdem Bauchef Markus Speiser über zahlreiche geplante Renovationsarbeiten orientiert hat, verteilt Bürgerrat und Waldchef Niggi Bärtschi an alle Anwesenden in einer Geste nobler Grosszügigkeit Billetts für eine Vorstellung im Cinéma Palace.
Der Apéro
Wohlerzogen packt jede und jeder ihren oder seinen Stuhl und stapelt sie – immer fünf Stück aufeinander – an der Wand. So gibt es Platz für das Apérobuffet, gereicht von Imhof Wein und Obstbau aus Sissach. Es bilden sich Grüppchen. Es wird diskutiert – ja, auch über die beiden Türen. Etwas abseits unterhalten sich Stephan Zimmermann, Hüter der Finanzen der Bürgergemeinde, und Gemeinderat Dieter Stebler, ebenfalls verantwortlich für die Finanzen. Ein ungleiches Paar: Zimmermann kann entspannt in die Zukunft blicken. Stebler hingegen hat infolge klammer Finanzen eine Steuererhöhung in Aussicht gestellt. Beide betonen aber die gute Zusammenarbeit und gegenseitige Wertschätzung.
Zimmermann bringt die gegenwärtige Situation auf den Punkt: «Wir von der Bürgergemeinde beschäftigen uns vorwiegend mit den Kosten alter Häuser, und ihr von der Einwohnergemeinde unter anderem mit den steigenden Pflegekosten älterer Menschen.» Beide nicken, prosten sich zu und mischen sich wieder unter die Menge.
Zum Schluss
Was bleibt, ist die Frage, warum mehr als 10 Prozent der in Sissach wohnhaften Bürgerinnen und Bürger die Bürgergemeindeversammlung besuchen. Ein Grund ist vermutlich die lockere Stimmung, die im gemeinsamen Apéro endet. Das kann aber nicht alles sein. Hört man sich um, ist viel von Wertschätzung für die Arbeit des Bürgerrats zu hören. Die Verbundenheit mit Sissach. Das Gefühl für Heimat. Sich auszutauschen oder um für ein paar Stunden die Probleme in einer Welt, die aus den Fugen scheint, in den Hintergrund zu drängen. Sich mit Gleichgesinnten für einen Augenblick auf der Insel der Glückseligen zu wähnen.
Quellen:
Heimatkunde Sissach 1898, 2. überarbeitete Auflage.


