«Die erste Zeit war eine harte Prüfung»
16.10.2025 SissachFür Jelveh und ihre erwachsene Tochter wurde die Frauendiskriminierung im Iran unerträglich
«Von uns Frauen wird erwartet, dass wir unser Leben nur zu Hause und als Bedienstete eines Mannes verbringen»: Jelveh flüchtete zusammen mit ihrer Tochter in die Schweiz ...
Für Jelveh und ihre erwachsene Tochter wurde die Frauendiskriminierung im Iran unerträglich
«Von uns Frauen wird erwartet, dass wir unser Leben nur zu Hause und als Bedienstete eines Mannes verbringen»: Jelveh flüchtete zusammen mit ihrer Tochter in die Schweiz und lebt nun in Sissach. Sie erzählt.
Aufgezeichnet von Ariane Rufino dos Santos
«Ich heisse Jelveh und komme aus dem Iran, bin 55 Jahre alt und lebe seit drei Jahren in der Schweiz. Mein Weggang wurde mit den aufkommenden Frauenprotesten im Iran immer dringender. Ich hatte mit meiner erwachsenen Tochter Visagesuche an verschiedene europäische Botschaften gestellt. Wir bekamen das Visum für die Schweiz, da wir frauenspezifische Fluchtgründe hatten und diese damals anerkannt wurden.
Wir hatten etwas Geld gespart und unser kleines Haus meinem Bruder und meiner Schwester übergeben. So konnten wir uns ein Flugticket nach Zürich kaufen und brauchten nur einen Tag für unsere Reise.
Von Zürich wurden wir ins Auffanglager nach Chiasso gebracht, wo wir einen Asylantrag stellten. Diese erste Zeit war eine harte Prüfung. Das Camp war überfüllt, täglich kamen Neue, es gab viel Streit und Gewalt unter den jungen Männern und wir fürchteten uns sehr. Wir hatten natürlich keine Ahnung, wie lange alles dauern würde, und viele Menschen um uns herum bekamen einen negativen Entscheid und verzweifelten. Immerhin war man frei, das Camp tagsüber zu verlassen und wir begannen, die Welt um uns herum auf kleinen, erholsamen Ausflügen zu entdecken.
Nach vier Monaten in Chiasso wurden wir dem Kanton Baselland zugeteilt und lebten sechs Monate in einem Asylheim in Zunzgen mit anderen Familien. Dort haben wir eine irakische Kurdin mit ihrer Tochter kennengelernt, die unsere Sprache spricht, und diese Freundschaft dauert bis heute an. Wir vier sind eine Art Familie geworden und sehen uns fast jedes Wochenende.
Von Zunzgen aus durften wir eine eigene Wohnung suchen, was nicht einfach war, denn viele Vermieter verlangen eine zu hohe Miete oder wollen keine Geflüchteten in ihren Wohnungen. Doch wir hatten Glück mit einem sehr sozialen Vermieter und wohnen nun schon seit Anfang 2023 in Sissach. Wir sind vorläufig aufgenommen worden in der Schweiz, und solange die Situation im Iran sich nicht verbessert, dürfen wir in der Schweiz bleiben. Zum Glück werden wir seit einiger Zeit begleitet von einer Schweizerin, die wir bei den ‹Freiwilligen für Flüchtlinge Sissach› kennengelernt haben und die uns in vielen Situationen eine Hilfe ist. Aber auch die Leute beim Sozialdienst sind sehr nett und behandeln uns gut.
Grosse Einschränkungen
Es ist für die Menschen hier kaum vorstellbar, welchen Diskriminierungen Frauen in meiner Heimat ausgesetzt sind. Wir müssen überall ein Kopftuch tragen, werden ohne männliche Begleitung belästigt – alleine oder als geschiedene Frau zu leben, ist fast unmöglich. Wir dürfen nicht Velo fahren, weder Fussball noch Volleyball spielen, auch Gymnastik oder Schwimmen im Meer ist nicht erlaubt. Unsere Sängerinnen und Musikerinnen dürfen nicht auftreten und es wird erwartet, dass wir unser Leben nur zu Hause als Bedienstete eines Mannes verbringen.
Wie befreiend war es, als wir von unserer Freundin ein Fahrrad geschenkt bekamen, und nun bei schönem Wetter Ausflüge in der Umgebung machen können!
Eine grosse Herausforderung hier ist im Moment die Arbeitssuche, die ich mir einfacher vorgestellt hatte. Nachdem ich drei Sprachkurse besuchen durfte und die Sprachstufe B1 gut abschliessen konnte, besuchte ich einen Arbeitsintegrationskurs bei «zRächt-Cho» in Pratteln, erhielt Bewerbungstraining und machte ein Praktikum bei «Sahara Secondhand», wo ich meinem Traum, Kleider zu verkaufen, näher kam. Auch ein dreimonatiges Praktikum bei «H & M» war motivierend, führte aber leider zu keiner Anstellung. Seit Mitte Januar habe ich sehr viele Bewerbungen abgeschickt, habe bisher aber noch keine Zusage oder Einladung zu einem Bewerbungsgespräch erhalten. Überall werde ich auf das Internet verwiesen, und diese Anonymität macht mir zu schaffen, denn dort besteht eine Absage aus einem Klick!
Auch im Detailhandel ist es schwierig. Wenn ich von anderen Leuten höre, so braucht die Arbeitssuche Geduld und viel Glück – wir müssen auf Menschen treffen, die uns eine Chance geben möchten und unser Potenzial sehen. Immerhin konnte ich noch ein dreimonatiges Praktikum bei «Migrolino» machen und diese Erfahrung hilft mir hoffentlich nun weiter.
Obwohl ich mir ein Leben in der Schweiz gut vorstellen kann und es als Glück betrachte, hier sein zu dürfen, vermisse ich meine Familie sehr. Die Mentalität bei uns ist sehr anders, viel Zusammenhalt, viel gegenseitige Hilfe und Offenheit, die Kultur, das Essen, das Zusammensein ist anders. Doch sobald ich Arbeit gefunden habe und mich nützlich machen kann, wird es einfacher, mich hier wohlzufühlen und eine sichere Zukunft aufzubauen.»
Ariane Rufino dos Santos wirkt bei der Gruppierung «Freiwillige für Flüchtlinge Sissach» mit. Die Serie wird in loser Folge fortgesetzt.