«Der Verkehrskollaps ist real»
30.10.2025 BaselWie soll es auf der Strasse und auf der Schiene weitergehen?
ETH-Professor Ulrich Weidmann, Autor der Studie im Auftrag von Bundesrat Albert Rösti (SVP), sprach über die Verkehrssituation in der Schweiz und der Region Basel. Dabei musste er sich Kritik vom Baselbieter ...
Wie soll es auf der Strasse und auf der Schiene weitergehen?
ETH-Professor Ulrich Weidmann, Autor der Studie im Auftrag von Bundesrat Albert Rösti (SVP), sprach über die Verkehrssituation in der Schweiz und der Region Basel. Dabei musste er sich Kritik vom Baselbieter Baudirektor und vom Handelskammer-Direktor anhören.
Tobias Gfeller
Dass Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme an der ETH Zürich, am vergangenen Dienstagabend, wenige Wochen nach Bekanntgabe der Resultate der Studie «Verkehr 45», einen grösseren Auftritt beim «baslerbauforum» hatte, war ein glücklicher Zufall. Angefragt wurde Weidmann Monate bevor Bundesrat Albert Rösti (SVP) aufgrund der Ablehnung des Autobahnausbaus die Verkehrsstudie bei der ETH in Auftrag gegeben hat. Weidmanns Nein zum Herzstück, dem unterirdischen Ausbau des Bahnknotens Basel, hat in der Region Basel für viel Verärgerung gesorgt. Da half seine Zustimmung zum Rheintunnel nur begrenzt.
Ulrich Weidmann vermied in seinem Einführungsreferat die Begriffe «Herzstück» und «Rheintunnel» und sprach lieber über den Begriff «Verkehrskollaps», gegen den an diesem Abend Rezepte gesucht werden sollten. Der ETH-Professor erinnerte an die Ängste vor einem Verkehrsinfarkt in den Jahren des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg, als es gefühlt erstmals Stau gab und die Wahrnehmung aufkam, man könne das Auto nicht mehr in der Stadt parkieren.
Für ihn ist klar: «Der Verkehrskollaps ist real. Er ist systemischer und grossflächiger als in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.» Es brauche eine kleine Störung und das ganze System kollabiere. Für Ulrich Weidmann befindet sich das Schweizer Verkehrssystem auf der Notfall-, aber noch nicht auf der Intensivstation. «Ein flächendeckender Ausbau der Kapazitäten wie in den 1960erund 1970er-Jahren ist angesagt.» Im Unterschied zu damals stosse der Infrastrukturausbau heute an seine Grenzen. Dazu kämen immer mehr Widerstand gegen einzelne Projekte und ausufernde Kosten.
Weidmann analysierte im Auftrag von Uvek-Vorsteher Albert Rösti zwischen Januar und September dieses Jahres rund 500 eingereichte Verkehrsprojekte auf Wirksamkeit und Kosten. Der Rheintunnel sollte gemäss der Studie «Verkehr 45» priorisiert werden, das Herzstück fiel vor allem aufgrund seiner hohen Kosten von prognostizierten 14 Milliarden Franken und dessen Komplexität durch.
Als eines der zentralen Ergebnisse der Studie nannte Weidmann die Schwierigkeit, mit einzelnen Projekten noch wesentliche Verbesserungen zu erreichen. «Die Schere läuft auseinander. Der Grenznutzen wird immer kleiner und die Kosten werden für eine vergleichbare Massnahme immer grösser.» Trotzdem ist Weidmann überzeugt, dass einzelne Infrastrukturausbauten «am richtigen Ort» noch immer viel bringen können. «Schlüsselstellen im Netz müssen funktionieren, sonst funktionieren die Systeme in der Region nicht mehr.»
Reber mild, Dätwyler direkt
Die Frage sei auch, wie viele Eingriffe das System noch ertrage. «In den vergangenen 15 Jahren wurde sehr viel Geld in die Bahn investiert, der Modalsplit blieb in etwa gleich.» Erhebliches Potenzial für Verbesserungen sieht Weidmann bei der Digitalisierung des Verkehrs und in der Vereinfachung der Planungs- und Bewilligungsprozesse.
Auf dem Podium waren sich der Baselbieter Baudirektor Isaac Reber (Grüne) und Martin Dätwyler, Direktor der Handelskammer beider Basel (HKBB), einig, dass das Verkehrssystem in der Region Basel längst nicht mehr genügend funktioniert. Nach der öffentlich geäusserten Kritik an der Studie gab sich Reber gegenüber Ulrich Weidmann betont milde. Die Zustimmung zum Rheintunnel sei richtig. Der Ausbau auf der Bahn sei gleichwohl zwingend. «Es wäre falsch, wenn wir den Bahnknoten Basel auf die Zeit nach 2045 verschieben würden. Das würde uns und die halbe Schweiz in ein grosses Dilemma führen», mahnte der Sissacher. Basel habe wie andere Regionen Anrecht auf eine funktionierende trinationale S-Bahn, stellte der Baselbieter Baudirektor klar.
Martin Dätwyler ging mit Ulrich Weidmann härter ins Gericht, obwohl er den ETH-Professor nicht für die aktuell schwierige Lage verantwortlich mache. «Das Resultat der Studie ist für unsere Wirtschaftsregion eine Enttäuschung. Es bietet für die nächsten Jahre im S-Bahn-Bereich keine Entwicklungsperspektive.» Dätwyler bezeichnete die Studie als «Bibel des Uvek», die langfristig als Grundlage gelten dürfte. «Das Anliegen einer so grossen Wirtschaftsregion, dass man uns eine Perspektive gibt, ist berechtigt», sagte der HKBB-Direktor und sprach in Sachen S-Bahn in der Region Basel von einem «Dilemma» und einem «Grounding». Die Hoffnung, im National- und Ständerat mit den Anliegen der Region Basel Gehör zu finden, gibt Martin Dätwyler trotzdem nicht auf.
Politgeograf Michael Hermann nannte als ein Rezept gegen den Verkehrskollaps eine gezieltere Siedlungsentwicklung. Wohnen, Arbeiten und Freizeitmöglichkeiten müssten räumlich näher zusammenrücken, um den Arbeits- und Freizeitverkehr zu entlasten. Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern fordert ein Aufbrechen der klassischen Arbeitszeiten, um die Verkehrsspitzen morgens und abends zu reduzieren.
Auf die Frage, welche Lösungen für kurzfristige Verbesserungen zur Verfügung stehen, nannte Ulrich Weidmann die Digitalisierung, die im Verkehr um 50 Jahre hinterherhinke, verbesserte Steuerungssysteme und das optimierte Ausnutzen der bestehenden Kapazitäten. Auch müssten vermehrt kleinteilige Mobilitätsformen eingesetzt werden.


