«Das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft»
11.06.2025 Sport, FussballFussball-EM der Frauen | Vera Gmür vom Fussballverband Nordwestschweiz im Interview
Der Frauenfussball boomt. Doch mit dem Aufschwung kommen Herausforderungen: überfüllte Plätze, fehlende Trainer und Engpässe bei den Ligen. Vera Gmür, ...
Fussball-EM der Frauen | Vera Gmür vom Fussballverband Nordwestschweiz im Interview
Der Frauenfussball boomt. Doch mit dem Aufschwung kommen Herausforderungen: überfüllte Plätze, fehlende Trainer und Engpässe bei den Ligen. Vera Gmür, Präsidentin Frauenfussball beim Nordwestschweizer Verband, erklärt, wie der Verband das Wachstum nachhaltig gestalten will und welche Rolle die EM dabei spielt.
Luana Güntert
Frau Gmür, unser Eindruck ist, dass der Frauenfussball in der Region stark gewachsen ist. Täuscht das?
Vera Gmür: Nein, im Gegenteil – das stimmt absolut. In den vergangenen sechs Jahren hat sich die Zahl der Mädchen- und Frauenteams in der Nordwestschweiz verdreifacht. Dieses Wachstum zeigt sich übrigens schweizweit: Aktuell gibt es rund 42 000 lizenzierte Spielerinnen in allen Kategorien, jedes Jahr kommen etwa 5000 dazu.
Sehen Sie auch für die kommenden Jahre weiteres Wachstumspotenzial?
Ja, das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft.Trotz steigender Zahlen machen Frauen und Mädchen erst rund 12 Prozent aller Fussballlizenzen in der Schweiz aus. Der Schweizerische Fussballverband hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Anzahl der Spielerinnen bis 2027 zu verdoppeln.
Gibt es auch ein konkretes Ziel für den Nordwestschweizer Verband?
Nein, wir haben keine fixe Zielzahl definiert. Aber auch wir wollen unseren Beitrag zur nationalen Entwicklung leisten. Dabei ist uns wichtig, dass das Wachstum nachhaltig erfolgt. Wenn immer mehr Mädchen Fussball spielen wollen, brauchen wir auch Trainerinnen, Schiedsrichterinnen und Funktionärinnen.
Das Wachstum bringt Herausforderungen mit sich: Viele Plätze sind ausgelastet, Vereine führen Wartelisten. Wie gehen Sie damit um?
Wir arbeiten an Lösungen auf zwei Ebenen. Kurzfristig schauen wir uns den aktuellen Spielbetrieb an. So haben wir gemeinsam mit dem Sportamt Basel-Stadt und grösseren Basler Vereinen kürzlich Workshops durchgeführt, um konkrete, sofort umsetzbare Massnahmen zu diskutieren. In der Stadt ist der Platzmangel besonders gravierend. Es ging etwa um die gerechtere Verteilung von Platz- und Garderobenzeiten. Dabei zeigte sich: In einigen Vereinen hat die erste Männermannschaft oberste Priorität, dann folgen die zweite, dritte – und erst viel später die Frauen. Gemeinsam haben wir nun ein Massnahmenpaket erarbeitet, wie Prioritäten innerhalb der Vereine fair geregelt werden können.
Aber das löst das Platzproblem an sich ja nicht …
Richtig. Deshalb haben wir den Vereinen auch konkrete Inputs gegeben, wie sie vorhandene Plätze effizienter nutzen können. Viele denken, ein Team braucht zwingend einen ganzen Platz für eine Trainingslektion – das stimmt nicht. Auf einer grossen Fläche können problemlos mehrere Gruppen gleichzeitig trainieren. Zudem fördern wir das sogenannte Pool-Training: Dabei durchlaufen die Kinder verschiedene Übungsposten. So können viel mehr Spielerinnen und Spieler gleichzeitig betreut werden.
Wie sieht die langfristige Strategie aus?
Einfach neue Plätze zu bauen – idealerweise mit Kunstrasen – ist leider nicht so einfach umzusetzen. Ich hoffe, dass durch die Frauen-EM auch das politische Bewusstsein wächst, wie dringend wir mehr Raum für den Sport brauchen. Kunstrasenplätze hätten dabei Priorität, weil sie wetterunabhängig nutzbar sind und nicht unter Sommerhitze oder Nässe leiden. In Basel-Stadt wird nun ein entsprechendes Konzept vorbereitet, das die Kunstrasenflächen in den kommenden Jahren verdoppeln will.
Welche Alternativen gibt es zusätzlich zum Kunstrasen?
Es werden aktuell mobile Beleuchtungssysteme evaluiert. Einige Trainingsplätze haben keine Beleuchtung – das schränkt den Betrieb in den Abendstunden massiv ein. Mit solchen Lichtlösungen können wir Trainingszeiten ausweiten.
Beim Stichwort Kunstrasen denken viele unserer Leserinnen und Leser sofort an Oberdorf. Wie beurteilen Sie solche Widerstände angesichts des
Fussballbooms?
In Oberdorf hatten wir die Problematik der strapazierten Gemeindefinanzen. Das Referendumskomitee betonte stets, nichts gegen Sport oder Fussball zu haben. Hier muss es uns gelingen, den sozialen Wert der Nachwuchsförderung noch besser zu vermitteln. Denn ich bin überzeugt: Sportanlagen und sporttreibende Kinder sind ein Gewinn für die ganze Gesellschaft. Wenn solche Infrastrukturen clever geplant werden, profitieren nicht nur einzelne Vereine, sondern ganze Gemeinden und Schulen.
Die Saison ist in vielen Ligen bereits zu Ende. Ab kommender Saison werden die Juniorinnen-Kategorien beim Fussballverband Nordwestschweiz neu strukturiert. Was ändert sich?
Wir erweitern die bisher vier Alterskategorien auf sechs: Neu wird es die Stufen FF7, FF9, FF11, FF14, FF17 und FF21 geben. Damit gleichen wir unsere Juniorinnenstruktur weiter derjenigen der Knaben an. Ich bin überzeugt, dass die Mädchen bis in einigen Jahren strukturell auf demselben Stand angekommen sind.
Wie gut werden die neuen Kategorien ausgelastet sein?
Das lässt sich aktuell noch nicht abschliessend sagen, da die Anmeldungen der Vereine noch laufen. Klar ist aber: In der FF14 wird es am meisten Teams geben. Bei den Jüngeren sind wir besonders gefordert – hier suchen wir gezielt nach Wegen, Mädchen früher für den Fussball zu begeistern. Denn während viele Knaben schon mit fünf oder sechs Jahren im Klub sind, starten Mädchen oft erst mit zehn. Für die älteste Kategorie, die FF21, bauen wir eine verbandsübergreifende Liga mit dem Aargau, Solothurn und der Innerschweiz auf. Da viele Spielerinnen in diesem Alter bereits mobil sind, ist ein grösseres Einzugsgebiet vertretbar.
Früher spielten viele Mädchen in gemischten Teams mit Knaben. Wird es das künftig noch geben?
Ja, aber nur vereinzelt – etwa bei Mädchen, die schon früh Richtung Leistungssport streben. Aufgrund ihrer physischen Voraussetzungen und ihres Talents können sie in einem Knabenteam profitieren – wenn sie sich dort auch wohlfühlen. Im Breitensport gilt für uns jedoch klar: Mädchen sollen so früh wie möglich mit anderen Mädchen und gegen Mädchen spielen.
Gibt es bereits neue Mädchenoder Frauenteams für die nächste Saison?
Viele Vereine sind noch in der Planungsphase. Was ich aber sagen kann: Der FC Liestal, der bislang noch kein Frauenteam hatte, wird kommende Saison erstmals eines stellen. Auch in anderen Vereinen gibt es Bemühungen, eine Mädchenabteilung aufzubauen.
In 21 Tagen beginnt die Frauen-EM. Welche Rolle übernimmt der FVNWS beim Anlass?
Wir betreuen im Auftrag der «Host City» Basel den Soccer Court – einen mobilen Fussballplatz bei der Messe. Dort können Fans und Passantinnen und Passanten gegeneinander spielen. Zudem präsentieren wir dort verschiedene Projekte rund um den Fussball und unterstützen den Schweizerischen Fussballverband bei der «Legacy Challenge», einem Programm zur Förderung des Frauenfussballs. Aktuell engagieren wir uns zudem intensiv dafür, den Trend auch in der Trainerinnen-Ausbildung aufzunehmen – mit Kursen nur für Frauen.
Wie ist der FVNWS in Sachen Frauenfussball im Vergleich zu anderen Regionen aufgestellt?
Bei uns ist die Förderung des Frauenfussball verankert im Leitbild. Durch mich haben wir eine Frau im Vorstand – das ist bei vielen anderen nicht der Fall. Ich denke, dass wir hier als Verband eine Vorreiterrolle eingenommen haben. Natürlich sind solche Änderungen in einem kleinen Verband einfacher – doch unsere Stimme wird national gehört. Dies liegt unter anderem auch an unserem Präsidenten Daniel Schaub, der sehr viel in den Frauenfussball investiert.
Welche Bedeutung hat die Europameisterschaft für Ihren Verband?
Sie ist medial und gesellschaftlich eine riesige Chance. Es freut mich sehr, wie viel darüber berichtet wird und dass auch über die negativen Entwicklungen rund um den Frauenfussball aufgeklärt wird. Für uns als Verband ist es dann die grosse Chance und Herausforderung, den Trend nach dem Final am 27. Juli fortzuführen und die Menschen nachhaltig für ein Engagement im Frauenfussball zu gewinnen.
Zur Person
lug. Vera Gmür ist im Oberbaselbiet zu Hause. Im Alter von 11 Jahren kam die heute 40-Jährige zum Fussball. Sie spielte mit dem SV Sissach in verschiedenen Aktiv-Ligen und mit dem FC Baden in der Nationalliga B.
Heute spielt sie für die Sissacher Seniorinnen und im Männerteam der Senioren. Seit Juli 2023 ist Gmür als Präsidentin Frauenfussball im Fussballverband Nordwestschweiz tätig.
Der FVNWS in Zahlen
lug. In der kürzlich beendeten oder teilweise noch laufenden Saison spielten 111 Mädchen- und Frauenteams in der Nordwestschweiz. Im Oberbaselbiet stellten der SV Sissach, der FC Gelterkinden, der FC Lausen und der FC Bubendorf mindestens ein Team. Mit zwei Teams bei den Aktiven, drei bei den Juniorinnen und einem bei den Seniorinnen ist der SV Sissach mit Abstand am breitesten vertreten.
Ende Kalenderjahr 2024 hatte der Fussballverband Nordwestschweiz (FVNWS) 2473 lizenzierte Spielerinnen (11,7 Prozent aller Spieler), 215 Trainerinnen (9,7 Prozent), 8 Schiedsrichterinnen ohne Mini- Schiedsrichterinnen (2,2 Prozent) und 114 Funktionärinnen (11,7 Prozent). Die Zahl der lizenzierten Spielerinnen ist seit der Saison 2018/19, abgesehen von der Saison 2020/21 mit der Pandemie, kontinuierlich gestiegen: 2018/19 gab es durchschnittlich erst 1686 lizenzierte Spielerinnen. Auch die Anzahl Trainerinnen konnte gesteigert werden: 2018 gab es etwas mehr als 100. Um mehr Mädchen für den Fussball zu begeistern, ist der FVNWS an mehreren Projekten beteiligt, zum Beispiel einer FF9-Turnierserie, einem Projekt zur Unterstützung von Torhüterinnen oder einer Regionalauswahl, der zusätzliches Training geboten wird.
Die EM zu Hause
vs. Zum ersten Mal in der Geschichte findet vom 2. bis 27. Juli die Fussball-EM der Frauen in der Schweiz statt. Die «Volksstimme» rückt bis zum Grossanlass verschiedene Personen, Anlässe und Themen rund um den Frauenfussball ins Zentrum.