«Das Geld reicht einfach nicht mehr»
03.11.2023 PorträtDie Schweizer Tafel macht im Monat November in besonderem Masse auf Armut und Foodwaste aufmerksam. Denn heuer feiert ihre Sammelaktion, der Suppentag, ihr 20-jähriges Bestehen. In Lausen hat die Sela Interkulturelle Kirche im Rahmen der Lausner Tafel die Aufgabe übernommen, einmal in ...
Die Schweizer Tafel macht im Monat November in besonderem Masse auf Armut und Foodwaste aufmerksam. Denn heuer feiert ihre Sammelaktion, der Suppentag, ihr 20-jähriges Bestehen. In Lausen hat die Sela Interkulturelle Kirche im Rahmen der Lausner Tafel die Aufgabe übernommen, einmal in der Woche Lebensmittel abzugeben. Regula Havener koordiniert die Lausner Tafel.
Sander van Riemsdijk
Frau Havener, was beinhaltet die Lausner Tafel?
Regula Havener: Einmal in der Woche treffen sich hier im Sela Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger aus den Gemeinden Lausen, Ramlinsburg und Lampenberg für die Lebensmittelabgabe. Unser Bezugstag ist immer der Donnerstag. Unsere Tafel hat jedoch noch andere Angebote, die für alle offen sind. Es sind dies Kleiderbörse, Chai-Tee und Gebetstreffpunkt, Hausaufgabenbetreuung für Kinder, Kinderspielstunde und gemeinsames Kochen und Essen, bei dem die Gemeinschaft gepflegt wird. Das Projekt Lausner Tafel steht mit insgesamt rund 25 Freiwilligen klar unter dem Motto: Nicht für-, sondern miteinander. Weil die Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger die Freiwilligen unterstützen.
Die Lebensmittel für die Abgabe sind gespendet. Woher stammen diese?
Unser Dienstleiter und Zulieferer ist die Schweizer Tafel. Diese sammelt bei den grossen Detailhandelsunternehmen, wie Aldi, Coop, Migros und Lidl, die Lebensmittel ein. Wir haben 40 Kisten mit Lebensmitteln zugut. Die Menge schwankt jedoch – je nachdem, was für Produkte gerade zur Verfügung gestellt werden. Wir können die Artikel und die Menge nicht selber bestimmen. Meistens sind es Frischprodukte, etwa Salate, die ein kurzfristiges Haltbarkeitsdatum haben.
Wer gehört zu den Bezügerinnen und Bezügern?
Einerseits sind dies Sozialhilfebezügerinnen und Sozialhilfebezüger, die aus irgendeinem Grund stellenlos geworden sind. Anderseits sind es Flüchtlinge und Migranten, die aus dem Sozialsystem gefallen sind. Insbesondere aber gibt es viele «Working Poors», die zwar eine Arbeit haben, aber nicht davon leben können. Irritierend ist, dass diese Menschen oft noch weniger zum Leben haben als Sozialhilfebezüger. Im Moment treffen sich hier Menschen aus 22 Nationen.
Und wer entscheidet, ob jemand für den Lebensmittelbezug in Betracht kommt?
Darüber entscheiden jeweils die Sozialdienste der zuständigen Gemeinden. Die Bestimmungen dafür sind klar geregelt.
Welche Lebensmittel beziehen die Menschen am meisten und wie viel dürfen sie jeweils einkaufen?
Was die Menschen in erster Linie brauchen, sind Grundnahrungsmittel wie Reis und Teigwaren. Diese lang haltbaren Produkte sind aber seltener im Angebot. Meistens erhalten wir Frischprodukte, zum Beispiel Brot, Salat, Gemüse und Früchte. Ebenso viele Süsswaren. Die Menschen dürfen eine ganze Einkaufstasche mit 15 bis 20 verschiedenen Artikeln, die vorher von unseren Freiwilligen sortiert worden sind, im Wert von rund 60 Franken füllen und zahlen dafür einen symbolischen Betrag von 2 Franken. Dies entlastet das Haushaltsbudget enorm.
Hat die Anzahl Bezügerinnen und Bezüger in jüngster Zeit zugenommen, eventuell auch aufgrund der Teuerung?
Ja, wir verzeichnen momentan wieder eine Zunahme bei den Flüchtlingen und Migranten. Eine solche Zunahme hängt immer sehr mit der Weltlage zusammen und ist darum sehr schwankend. Wir haben ebenso eine Zunahme bei den Schweizern, die auf die massiv gestiegene Teuerung zurückzuführen ist. Das Geld reicht schlicht nicht mehr, um über die Runden zu kommen. Insbesondere Familien oder Alleinerziehende sind hier betroffen.
Armut hat viele Gesichter. Wie sieht die Armut in unserer Region aus?
Wenn ich Armut höre, sehe ich in unserer Region einerseits die materielle Armut, unter der alle Nationalitäten leiden, Schweizerinnen und Schweizer inklusive. Diese Menschen stehen tagtäglich vor der Herausforderung, finanziell über die Runden zu kommen. Anderseits sehe ich eine sehr starke emotionale und seelische Armut, die in der Überforderung, das Leben zu meistern, zum Ausdruck kommt und sich immer mehr breitmacht.
Was macht Armut mit den Menschen?
Viele werden psychisch krank. Stresssymptome in allen Variationen machen sich bemerkbar und vor allem die Angst vor der Zukunft. Bei denjenigen, welche die Arbeit verloren haben, fehlt es dann bald auch am Selbstwertgefühl.
Viele Menschen schämen sich wegen ihrer Armut. Aus diesem Grund ziehen sie sich oft zurück und verzichten allenfalls auf die ihnen zustehende Lebensmittelausgabe. Wie können Sie diese Menschen erreichen?
Das ist immer wieder unser grosses Thema. Wenn wir es von Dritten erfahren, suchen wir das Gespräch. Sobald diese Menschen dann einmal bei uns waren, ist die Hürde ziemlich schnell überwunden. Von vielen wissen wir es schlicht nicht. Es sind vor allem Ukrainerinnen und Ukrainer sowie Schweizerinnen und Schweizer, die – kulturell bedingt – sich nicht getrauen, sich zu melden. Diese müssen dann den ersten, schwierigen Schritt alleine machen. Wir haben zum Glück den Vorteil, dass wir uns ausserhalb des Dorfkerns befinden und die Bezügerinnen und Bezüger sich bei der Lebensmittelabgabe nicht so beobachtet fühlen müssen.
Zur Person
svr. Regula Havener ist 49 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Aufgewachsen ist sie in Wangen bei Dübendorf und momentan wohnhaft in Reigoldswil. Als Theologin leitet sie seit bald zehn Jahren zusammen mit ihrem Mann die Lausner Tafel und die Sela Interkulturelle Kirche Lausen, ehemals Freie Missionsgemeinde. Die Lausner Tafel selbst gibt es seit rund 16 Jahren.