Bombig!
08.07.2025 SissachUnterwegs im Nordpazifik, Teil 4: Guam
Die Insel Guam, im Nordpazifik gelegen, ist überaus seltsam. Einerseits ist sie ein Hochzeits-Paradies für Japaner, andererseits ist sie eines der grössten Atomwaffen-Lager der Amerikaner. Passt doch irgendwie nicht zusammen!
...Unterwegs im Nordpazifik, Teil 4: Guam
Die Insel Guam, im Nordpazifik gelegen, ist überaus seltsam. Einerseits ist sie ein Hochzeits-Paradies für Japaner, andererseits ist sie eines der grössten Atomwaffen-Lager der Amerikaner. Passt doch irgendwie nicht zusammen!
Hanspeter Gsell
Es muss kurz nach Tagesanbruch gewesen sein. Es war möglicherweise der 6. März 1521, als der Ausguck der «Trinidad» (ein junger Seemann unbekannten Namens, jedoch spanischer Abstammung), die kleinen Inseln entdeckte. Sein erlösender Aufschrei hallte über das Schiff. Selbstverständlich wissen wir heute nicht mehr, was er denn genau gerufen hat. Da er den Ausruf mit grösster Sicherheit in einem mittelalterlichen spanischen Dialekt tat, hätten wir es ohnehin nicht verstanden, und so legen wir uns auf ein laut gebrülltes «Land ahoi!» fest.
Magellan
Vor 99 Tagen hatten drei Schiffe – die letzten noch seetüchtigen Dreimaster aus Magellans Flotte – die Stelle an der südlichsten Spitze Amerikas umrundet, die später den Namen des grossen Entdeckers tragen sollte: die Magellanstrasse.
Beinahe 100 Tage waren sie einigermassen ziellos durch den Pazifik gesegelt. Gegessen hatten sie nicht viel mehr als Sauerkraut (zwecks Aufnahme von Vitamin C) und wurmstichigen Zwieback (zwecks Beherrschung des Sauerkrauts). Da diese Leckereien bald einmal aufgebraucht waren, tat man sich anschliessend am Sägemehl und Lederzeug gütlich.
Als die Jungs von der «Trinidad» und den beiden Begleitschiffen all die Kokospalmen, Brotfruchtbäume und die tiefgrüne Vegetation sichteten, waren sie, wer hätte es ihnen auch verübeln können, ziemlich aus dem Häuschen. Als man an der Südostküste einen sicheren Platz gefunden hatte, schmissen die ausgehungerten Spanier den Anker und innerhalb weniger Minuten standen sich erstmals in der Weltgeschichte Europäer und Mikronesier gegenüber. Die Europäer in zerschlissenen Kleidern, die Mikronesier in gar nichts.
Vielleicht haben Sie sich diese erste Begegnung etwas romantischer oder zumindest heroischer vorgestellt. Vielleicht ein paar Fanfarenstösse, Salutschüsse oder ein paar Schwünge mit der Fahne. Aber da war nichts. Keine Ehrengarde, kein Rednerpult, keine Ansprachen. Man stand sich einfach gegenüber und sagte gar nichts. Eine Szene, wie sie sich in den nächsten dreihundert Jahren wohl noch unzählige Male wiederholen sollte.
Insel der Diebe
Bevor Magellans Mannen die spanische Fahne in die ungläubige Erde stossen konnten, hatten die Einheimischen das Schiff längst «friedlich» erobert. Es wuselte nur noch so von ihnen. Und sie waren derart entzückt von den vielen Geschenken, die da auf dem Schiff herumlagen, dass sie alles mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war. Töpfe, Seile, Kleider und vor allem Metall.
Magellan, nicht besonders geschickt in solchen Situationen, griff zum beliebten Handbuch «Wie entdeckt man eine Insel» und fand auch bald die entsprechenden Anweisungen. Er beorderte seine Soldaten zu sich und befahl ihnen, ein paar dieser Eindringlinge «vom Leben in den Tod zu bringen». Was diese umgehend erledigten und später vor einem Kriegsgericht aussagen würden, sie seien dazu gezwungen worden.
Genau wie im Handbuch vorhergesagt, verliessen die Mikronesier fluchtartig das Schiff, nicht ohne noch ein paar Geschenke mitzunehmen. Die «Islas de los Ladrones», die Inseln der Diebe, kam zu ihrem ersten Auftritt im grossen Welttheater.
Mit den Spaniern kamen bald einmal die Jesuiten. Diese brachten den «Chamorros», der Urbevölkerung Guams, den Herrn und dessen Familie näher. Nach dem spanischamerikanischen Krieg 1898 waren es die Amerikaner, die das Inselchen beherrschten.
1941 wurde Guam von den Japanern erobert, um 1944 von den Amerikanern wieder von diesen entledigt zu werden.
«Bomben-Insel»
Heute ist die Insel ein riesiger Militärstützpunkt der Amerikaner. Militärflugplätze, Waffendepots und Häfen für die Marine belegen ein gutes Drittel der Insel. Bomber für den Abwurf von Atomsprengkörpern sind auf der Andersen Airport Base stationiert, U-Boote mit Atomraketen an Bord liegen im Hafen von Apra.
Jetzt kommen wiederum die Japaner ins Spiel. Sie haben die Insel in den letzten Jahren friedlich erobert.
Guam wurde zum Mallorca von Japan. Flog man früher nach Hawaii, um in einem japanischen Hotel zu heiraten, fliegt man heute nach Guam.
Japanische Hotels und Restaurants pflastern die Luxusmeilen der Insel und bieten alles, was ein Brautpaar sich wünscht. In den Parks der Hotels wurden Tempel gebaut, die Shinto-Priester stehen auf der Lohnliste der Hotels. Näher möchte ich mich hier nicht auf japanische Gepflogenheiten einlassen: Es wird schnell sehr kompliziert.
Auch die folgenden Aussagen sind zu schwierig, um sie wirklich verstehen zu können. In der Nähe der Hochzeitshotels werden Atomwaffen gelagert. Und von der in der Nähe liegenden Insel Tinian starteten die amerikanischen Bomber im Zweiten Weltkrieg mit ihrer tödlichen Fracht nach Hiroshima und Nagasaki.
Schlangen im Hochzeits-Paradies
Nicht nur Sprengköpfe, auch Schlangen können einiges an Sprengkraft bergen. Deren Auswirkungen sind nämlich fatal. Nicht auf Touristen oder Einheimische. Aber für die Vogelwelt. Von «Welt» zu sprechen, ist allerdings nicht mehr korrekt: Es gibt fast keine Vögel mehr auf Guam.
Die Braune Nachtbaumnatter, ursprünglich auf den Salomonen beheimatet, wurde im Gepäck von Amerikanern unbeabsichtigt nach Guam eingeführt. Es handelt sich somit um eine invasive Art.
Die Schlangen leben auf Bäumen und Telefonstangen und fressen fürs Leben gern Vögel und Vogeleier. Die Tage der munteren Flatterer waren somit gezählt. Es gibt auf Guam kein Vogelgezwitscher mehr. Da es auf Guam auch keine Kuhglocken oder Kirchenglocken gibt, hört man heute nur noch das Heulen der Autos.
Der Marianengraben
Den japanischen Touristen werden auch Tauch- und Schnorchelausflüge zum Marianengraben angeboten. Dieser liegt nur wenige Kilometer vor der Insel und eignet sich somit bestens für einen Tagesausflug.
Vielleicht erinnern Sie sich: 1960 tauchten der Schweizer Jacques Piccard und der Amerikaner Don Walsh mit dem Tauchboot «Trieste» am Marianengraben ab und erreichten den Boden nach knapp 11 000 Metern. 2012 tat es ihnen James Cameron gleich. Weshalb es Spass machen sollte, stundenlang in einer engen Röhre zu hocken, bleibt mir verschlossen.
James aus Hagatna in Guam hatte etwas anderes im Sinn, als er in den 1990er-Jahren mit einem Japaner namens Hiromoto einen Tauchausflug zum Marianengraben plante. Er beabsichtigte jedoch nicht, selbst in das Dunkle abzutauchen. Ob er den Japaner seinem Schicksal überlassen und ihn in der Tiefe des Meeres versenken sollte? Warum auch nicht! Schliesslich hatten Hiromotos Grossvater und dessen Kumpane die Vorfahren von James erschossen.
Nachdem er über der tiefsten Stelle der Welt den Motor gestoppt hatte, half James seinem Kunden beim Anziehen der umfangreichen Ausrüstung. Damit dieser sicher und schnell abtauchen konnte, packte er ihm mehrere Kilos Blei zusätzlich ein.
Hiromoto hatte keine Chance. Er ertrank jämmerlich, seine Leiche wurde nie gefunden.
James aber fuhr glücklich und zufrieden zurück nach Hagatna. Auge um Auge, Zahn um Zahn! Diesen Spruch hatte er doch von den Missionaren gelernt.
James, der Taxifahrer
Zufälligerweise hiess auch unser Taxifahrer James. Es war noch dunkel, als er uns auf dem Flughafen von Guam abholte. Trotz der nächtlichen Stunde war er rasiert und machte auch sonst einen seriösen Eindruck. James fuhr einen alten Suzuki. Als wir einstiegen, hatte die Klimaanlage bereits ihre ideale Betriebstemperatur erreicht. Dies bedeutet für einen durchschnittlichen Amerikaner, dass es im Wageninnern 18 Grad kalt ist. Für einen durchschnittlichen Schweizer war es somit deutlich zu kalt. Auf unsere Bitte hin schraubte er das Thermometer der Anlage auf 22 Grad.
Wie für einen Amerikaner üblich, befragte er mich zu Arbeitgeber, Lohn und Familie. Ich sagte «ja».
Nach knappen zwanzig Minuten erreichten wir unser gewünschtes Ziel. Das Hotel würde unser temporäres Zuhause auf unserm Weg nach Hawaii sein. Ich fragte James nach der genauen Uhrzeit. Obwohl er eine Uhr trug und auch der Zeitmesser des alten Suzuki zu funktionieren schien, drehte er die Fahrerscheibe hinunter und schaute gegen den Himmel.
«Es ist jetzt genau 5.43 Uhr.»
Ich bedankte mich bei James, dachte jedoch nicht, dass er uns die korrekte Zeit angegeben hatte. Seit wann konnte man die Uhrzeit am Himmel ablesen?
An der Rezeption des Hotels hingen gleich mehrere Uhren mit den Zeiten von New York, Tokyo, Paris und Guam.
Es war genau 5.43 Uhr.
Danke, James. Ich werde mir bei Gelegenheit die Himmelsuhr mal anschauen. Fortsetzung folgt.
Bisher erschienen:
Teil 1 (19. Juni), Teil 2 (26. Juni), Teil 3 (4. Juli)
Unterwegs im Nordpazifik
vs. Hanspeter Gsell (Sissach), Autor und «Volksstimme»- Kolumnist, hat es wieder getan: Zum fünften Mal ist er rund um die Welt geflogen. In loser Reihenfolge veröffentlichen wir seine zehnteilige Reportage «Unterwegs im Nordpazifik». Unser Tipp: Lesen Sie auch zwischen den Zeilen! Eine Sommerserie, nicht nur für Daheimgebliebene.