Blühen, Reifen und Welken
09.05.2025Es ist die Zeit der Fülle. Die Zeit der Reife. Schon zum dritten Mal habe ich Bohnen gepflückt, und der Segen ist noch nicht vorbei. Zucchetti und Kürbis gedeihen zwischen dunkelgrünen Blättern. Und endlich entschädigen uns die Brombeeren für die Plackerei, sie ...
Es ist die Zeit der Fülle. Die Zeit der Reife. Schon zum dritten Mal habe ich Bohnen gepflückt, und der Segen ist noch nicht vorbei. Zucchetti und Kürbis gedeihen zwischen dunkelgrünen Blättern. Und endlich entschädigen uns die Brombeeren für die Plackerei, sie loszuwerden. Die Ranken sind schwer mit schwarzglänzenden, süss schmeckenden Früchten.
In der Abendsonne leuchten die Hagebutten an den Wildrosensträuchern. An den wilden Apfelbäumen reifen die Früchte. Der Solartrockner, den uns Claudia vom Bergli zum Abschied gebaut und mitgegeben hat, produziert schmackhafte Dörrbohnen für den Winter. Auch der Tiefkühler ist gut gefüllt mit Bohnen – bei regelmässigem Stromausfall allerdings ein Vabanquespiel.
Sobald die Scheune gebaut ist, können wir mit der Solaranlage anfangen und uns vom Stromnetz unabhängig machen. Auch in dieser Sache erhalten wir unerwartete Hilfe. Der Nachbar von Yvonnes Eltern, die in Concepción leben, ist pensionierter Elektroingenieur. Er hat uns angeboten, die Anlage für uns zu planen und zu montieren – gegen Kost und Logis. Damit der Strom auch im Winter fliesst, bauen wir in unserem Bach eine kleine Wasserturbine ein, die ebenfalls die Batterie speist.
Heute, an einem wunderbar warmen und sonnigen Sonntag, sind wir an den See gefahren und gönnen uns einen freien Nachmittag, nachdem Johnny mit Yvonnes Cousin Miguelito die ganze Woche im Wald herumgetobt ist und umgestürzte Bäume in Brennholz verwandelt hat. So wie es aussieht, werden wir auch in diesem Winter nicht frieren müssen.
Das gibt mir Zeit, über Fülle, Reife und über die Zyklen des Lebens nachzudenken. Für Pflanzen ist es einfach. Sie keimen, spriessen, wachsen heran, produzieren Blüten, Früchte, Samen, und wenn sie ihre Aufgabe erledigt haben, welken sie dahin und sterben ab. Obwohl sich Pflanzen wohl kaum hinterfragen, drängt sich der Vergleich mit einem Menschenleben förmlich auf. Auch wir wachsen heran, erleben eine Zeit der Fülle und Reife, bevor wir zu welken beginnen. Die einen bringen Nachwuchs hervor, andere finden Erfüllung im tätig Sein, Möglichkeiten, ein Leben zu gestalten, gibt es unzählige.
Auch Möglichkeiten zu säen und zu ernten stehen uns allen offen – auf die eine oder andere Art. Es lohnt sich jedenfalls, ab und zu innezuhalten und sich über seinen inneren Zustand Klarheit zu verschaffen. Dass ich im Stadium des Welkens bin, lässt sich nicht leugnen. Im Welken erlebe ich eine Zeit der Fülle, fast schon Erfüllung, die mich immer wieder sprachlos macht. Sprachlos und dankbar. Johnny und Yvonne befinden sich ganz offensichtlich im Zustand der Blüte und Reife, während Klein-Arturo spriesst wie verrückt und nach allen Seiten ausschlägt. Es ist Herbst. Zeit der Ernte und der Reife.
Die Journalistin Christa Dettwiler ist 2022 gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Ehefrau von Rünenberg nach Chile ausgewandert. Sie erzählt regelmässig von ihrem Alltag.