«Bei uns sind Gegner keine Feinde»
04.01.2025 BaselbietDie Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war eines der Hauptthemen 2024. Es hat sich gezeigt, dass die Gesellschaft in den USA immer weiter auseinanderdriftet. Und in der Schweiz? Benjamin Jansen hat an der Uni Basel den Grad der Polarisierung hierzulande «vermessen» – ...
Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war eines der Hauptthemen 2024. Es hat sich gezeigt, dass die Gesellschaft in den USA immer weiter auseinanderdriftet. Und in der Schweiz? Benjamin Jansen hat an der Uni Basel den Grad der Polarisierung hierzulande «vermessen» – und gibt Entwarnung.
David Thommen
Herr Jansen, eine «zunehmende Polarisierung in unserem Volke» wurde in der «Volksstimme» erstmals im Jahr 1970 in einem Artikel beklagt. Wann hat der Begriff Polarisierung Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden? Und wie alt ist das Phänomen wirklich?
Benjamin Jansen: Wir haben für unsere Untersuchung Umfragedaten ausgewertet und Wahlverhalten analysiert – zum Wort Polarisierung im historischen Sinn haben wir jedoch nicht geforscht. Mein Eindruck ist, dass der Begriff schon sehr lange verwendet wird. Seit Jahrzehnten wird die Situation in den Medien immer wieder gerne als besonders zugespitzt dargestellt …
Polarisierung ist also kein neues Phänomen?
Überhaupt nicht. In der psychologischen Theorie der sozialen Identität ist die Abgrenzung zu einer anderen Gruppe als wirksames Motiv zum Engagement innerhalb der eigenen Gruppe ein bekanntes Phänomen. Dies wird oft mit einem tief in uns verwurzelten evolutionär herausgebildeten Stammesdenken in Verbindung gebracht.
Den Wahlkampf in den USA haben wir hier in Europa als extrem polarisiert wahrgenommen. Hat sich dort die Polarisierung zur Spaltung der Gesellschaft ausgewachsen?
Zuverlässige Daten zur emotionalen Parteipolarisierung der Bevölkerung sind in den USA mindestens für die vergangenen fünf Jahrzehnte vorhanden und zeigen klar einen starken Anstieg über den gesamten Zeitraum. Dies ist tatsächlich besorgniserregend. Spannenderweise zeigt sich dieses klare Muster in der US-Bevölkerung aber nicht bei Sachfragen, sondern nur auf Parteisympathieebene. Gleichzeitig ist festzustellen, dass andere Konflikte in den Vereinigten Staaten an Bedeutung verloren haben. Zum Beispiel wird die emotionale Polarisierung entlang der Aufteilung nach Hautfarbe immer schwächer.
Wird diese hitzige Polarisierung nach dem Trump-Harris-Wahlkampf nun auch zu uns überschwappen?
Davon gehe ich nicht aus. In der Schweiz beobachten wir solche Tendenzen in den Umfragedaten nicht. Auch unsere Untersuchung des Wahlverhaltens bis 1983 zurück zeigt hierzulande keine klaren Polarisierungstrends. Auch wenn der Ton in der Politik zuweilen möglicherweise als härter empfunden wird, scheint dies nicht gross auf die Wählerschaft durchzuschlagen.
Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt, dass das Wort Polarisierung in den klassischen Schweizer Medien – Print, Online, Radio, TV – in den vergangenen 12 Monaten in über 3200 Beiträgen verwendet wurde. Wird der Begriff inflationär gebraucht?
Auf die Schweiz und die aktuelle Situation bezogen: Ja. Was die Zukunft bringt, wird sich zeigen.
Sie haben unter anderem das Panaschierverhalten bei Wahlen in der Schweiz untersucht. Was sagt Panaschieren über Polarisierung aus?
Ein Indikator für zunehmende Polarisierung wäre, wenn Wählerinnen und Wähler zunehmend strikt für ihre favorisierte Partei stimmen, also etwa unveränderte Listen einlegen. Über die letzten 40 Jahre haben wir jedoch kaum Änderungen im Panaschierverhalten festgestellt, das Wahlverhalten diesbezüglich ist recht konstant. Auch Umfragen zeigen kein zunehmendes Lagerdenken. Die Sympathie und Antipathie gegenüber Parteien bleiben weitgehend unverändert. Nur kurz nach der Jahrtausendwende gab es einen Anstieg der Polarisierung in den Umfragedaten zu den individuellen Parteisympathien. Seither hat sich das Level kaum verändert.
Was war damals um die Jahrtausendwende der Grund? Ein «Blocher»-Effekt?
Das haben wir nicht herausgefunden. Tatsache ist, dass sich die sprunghafte Zunahme der Polarisierung um 2000 nur in den Umfragen zeigte, bemerkenswerterweise aber nicht im tatsächlichen Wahlverhalten, das weitgehend unverändert blieb. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass dies mit der Einführung der Wahlentscheidungshilfe «Smartvote» zusammenhängt. «Smartvote» hat bereits früher auf kantonaler Ebene dazu geführt, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Stimmen breiter streuen, also auch vermehrt Kandidatinnen und Kandidaten mit ähnlichem Profil von anderen Listen berücksichtigen. Es ist möglich, dass sich die um die Jahrtausendwende in Umfragen festgestellte Polarisierung ohne «Smartvote» auch im tatsächlichen Wahlverhalten bei den Nationalratswahlen 2003 niedergeschlagen hätte.
Was macht die Schweiz anders – oder besser – als die USA, wo die beiden Lager auseinanderdriften?
In der politischen Ökonomie gibt es das Argument, dass das Zwei-Parteien-System in den USA polarisierende Schmutzkampagnen vergleichsweise lukrativ macht. Selbst wenn man eine Kampagne der eigenen Partei nicht toleriert, gibt es kaum Alternativen. In unserem Mehrparteiensystem kann man hingegen auf eine ähnliche Partei ausweichen. Eine Schmutzkampagne einer Partei gegen eine andere ist somit weniger attraktiv, da vor allem alle Drittparteien profitieren – theoretisch also ein Trittbrettfahrerproblem mit positiven Konsequenzen. Weiter besteht das Argument, dass wir durch direkte Volksabstimmungen und Referenden sehr heisse Grundsatzthemen besser losgelöst von Parteipolitik und Wahlen aushandeln können. Wenn ich beispielsweise Angst vor einem Angriff auf das Recht auf Abtreibung habe, brauche ich nicht notwendigerweise eine laut bellende Stimme im Parlament, sondern kann direkt Einfluss nehmen. Beide Argumente begünstigen eine weniger polarisierte Wähler- und Wählerinnenlandschaft.
Keine verschärfte Polarisierung in der Schweiz: Hat Sie der Befund überrascht?
Als Wissenschaftler sind wir ohne feste These an die Arbeit gegangen. Intuitiv hätte ich aber tatsächlich erwartet, dass wir über die Jahre eine zunehmende Lagerbildung beobachten. Es mag damit zusammenhängen, dass wir dazu neigen, Phänomene aus der Weltmacht USA auf unsere Gesellschaft übertragen zu wollen …
Die Wellen sind in der Vergangenheit in der Schweiz ja tatsächlich manchmal hochgegangen.
Mag sein. Aber selbst bei den eidgenössischen Wahlen 2023, also kurz nach der Corona-Pandemie, haben wir keine ausgeprägtere Polarisierung festgestellt.
Unsere umliegenden Länder kennen ebenfalls Mehrparteiensysteme. Dort hingegen gibt es einen verschärften Lagerkampf: In Deutschland das Aufkommen der AfD, Meloni in Italien, Le Pen in Frankreich …
Populismus und Polarisierung sind zwar miteinander verbunden, sind aber nicht dasselbe. Beide folgen einer Logik der Abgrenzung, die Strategie des Populismus zielt jedoch vor allem darauf ab, Pluralismus zu verneinen und eine Elite zu skizzieren, die angeblich gegen die Interessen des «einzig wahren Volks» – was auch immer das sein soll – handelt. Im Konkordanzsystem der Schweiz ist es schwieriger für Parteien, eine solche Position einzunehmen.
Während Corona waren solche Tendenzen auch hier zu erkennen …
Damals wurde teilweise tatsächlich ein solches Bild gezeichnet. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Gruppe damals aber als grösser wahrgenommen wurde, als sie tatsächlich war. Dass massive Staatseingriffe mit weitreichenden individuellen Konsequenzen nicht einfach stillschweigend hingenommen werden, ist allerdings noch kein Populismus. Die Abstimmungsergebnisse wurden letztlich breit akzeptiert.
Pol-Parteien haben wir aber ja natürlich trotzdem. Wer polarisiert mehr – Links oder Rechts?
Das hängt vom Blickwinkel ab. Wenn etwa die Rechten mit ihren Kampagnen provozieren, nimmt unter Umständen im Linkslager die Polarisierung zu – und umgekehrt. Welche Seite in dieser Geschichte nun Ursache der Polarisierung ist – also «Triggernde» oder «Getriggerte» –, hängt vom Erzähler oder der Erzählerin ab. Betrachtet man isoliert das Panaschierverhalten, weicht die SVP-Wählerschaft am wenigsten von der eigenen Partei ab. Dies ist aber auch nicht verwunderlich, da sie als stärkste Partei keinen grossen Anreiz zum Abweichen bietet. Bei den Grünen sieht man den Zusammenhang zwischen Parteigrösse und vermindertem Panaschieren über die Zeit besonders gut: Je grösser die Partei wurde, desto weniger gaben die Wählerinnen und Wähler Stimmen an andere Parteien ab. In den aktuellsten Umfragedaten sehen wir, dass die SVP am stärksten entweder als nahezu einzige Partei gemocht oder breit von den meisten anderen abgelehnt wird.
Ist Polarisierung in unserer Demokratie nicht geradezu produktiv? Wir wählen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Ideologien in die Parlamente, damit sie sich dort ordentlich streiten und dabei gute Kompromisse erzielen …
Es entspricht unserem demokratischen Verständnis, dass unterschiedlichste Ideen in den politischen Prozess eingebracht werden. Harte Diskussionen führen oft zu guten Lösungen. Entscheidend ist, dass die Gegenseite in der Schweiz weiterhin zwar als politischer «Gegner», aber gleichzeitig als Mitmensch und nicht als «Feind» betrachtet wird.
Ihre Studie legt nahe, dass emotional stärker polarisierte Personen häufiger den Weg in die Politik und in Ämter finden. Sind polarisierte Menschen bessere Demokraten?
Ja, wer stärker emotional polarisiert ist, bringt sich tendenziell mehr in die Politik ein. Die Huhn- oder Ei-Frage ist hier aber schwierig zu beantworten.
Ihre Schwester Ronja Jansen war Präsidentin der Juso Schweiz und sitzt heute für die SP im Baselbieter Landrat, wo sie zuweilen gegen alles austeilt, was von rechts kommt. Haben Sie wegen Ihrer Schwester zu Ihrem Thema gefunden?
(Lacht) Wir sind in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem viel diskutiert wurde, und ich habe noch immer viele intensive, aber produktive Diskussionen mit meiner Schwester. Wir interessieren uns eben beide für die Welt. Gleichzeitig haben wir unterschiedlichen Zugang zur Politik und gehen einem anderen Handwerk nach: Sie ist praktisch tätig und macht konkrete Politik, ich bin wissenschaftlich tätig und habe als Politökonom stärker institutionelle Fragen im Fokus. Das Thema Parteipolarisierung habe ich damals zusammen mit meinem Doktorvater ausgewählt.
Als Fazit: Sonderfall Schweiz – eine stabile Insel ohne beunruhigende Spaltungstendenzen?
Ja. Wir haben oft das Gefühl, alles werde laufend schlechter. Ich glaube, das ist verfehlt: Vieles ist heute besser als es früher war. Das heisst aber nicht, dass man den positiven Entwicklungen nicht Sorge tragen muss. Fortschritt kommt nicht von alleine.
Hätte Ihre wissenschaftliche Arbeit eine Zunahme der Polarisierung gezeigt, wären Ihre Ergebnisse in allen Medien gross ausgeschlachtet worden. So bekommen Sie «nur» ein Interview zum Jahreswechsel in der «Volksstimme». Auch okay?
Ja, dramatische Resultate sind populärer. Dies ist für die Wissenschaft – auch aus Anreizperspektive – ein bekanntes Problem. Ich habe mich jedenfalls sehr über Ihre Anfrage gefreut!
Zur Person
tho. Benjamin Jansen, 28, stammt aus Frenkendorf und forscht als Doktorand an der Universität Basel im Bereich der politischen Ökonomie. Sein Schwerpunkt liegt aktuell auf der emotionalen Polarisierung in der Schweizer Politik.
Privat liebt Jansen die geplante Abwechslung: frühmorgens und abends Sport, tagsüber wissenschaftliche Arbeit und am Wochenende Städtetrips, eine Cocktailbar-Tour oder in den Club. Sein Faible für Cocktails kommt von seiner Arbeit als Bartender während des Studiums. In den Ferien reist er gern mit der Fotokamera im Gepäck in exotische Länder – besonders angetan haben es ihm Wildtiersafaris und insbesondere Raubkatzen.