Auf chinesischen Seidenstrassen
16.10.2025 SissachAusstellung erinnert an die Reisen von Ursula Graf
Ihre Reisen führten Ursula Graf weit über die Grenzen der Schweiz hinaus – und tief hinein in die Kulturen Zentralasiens. Eine Ausstellung zeigt Fotos der Sissacherin, die China mit grosser Neugier und ...
Ausstellung erinnert an die Reisen von Ursula Graf
Ihre Reisen führten Ursula Graf weit über die Grenzen der Schweiz hinaus – und tief hinein in die Kulturen Zentralasiens. Eine Ausstellung zeigt Fotos der Sissacherin, die China mit grosser Neugier und Menschenfreundlichkeit bereiste.
Janis Erne
Im «ChinaHouse» in Sissach hängen ab morgen Freitag Bilder, die mehr erzählen als bloss von einem fernöstlichen Land. Sie führen entlang der alten Seidenstrassen in China – und erzählen zugleich vom Leben einer Sissacherin, die sich mit Wissbegier und einem offenen Herzen auf die Spuren anderer Kulturen begab. Die Ausstellung zeigt Fotografien von Ursula Graf, die ihre zweite Lebenshälfte dem Erleben der Seidenstrassen in China widmete (siehe Kasten).
«Unsere Mutter hat nicht einfach Fotos gemacht», erzählt Manuela Graf, eine ihrer Töchter. «Sie war eine Dokumentarin und Aufklärerin für uns hier im Westen.» Tatsächlich war Ursula Graf – von allen «Ursi» genannt – mehr als eine Reisende mit der Kamera. Sie war Beobachterin, Pädagogin und vor allem eine Menschenfreundin.
Mut und Improvisation
Geboren wurde sie 1944 in Frauenfeld. Sie wuchs als Einzelkind in einer geborgenen Umgebung auf. In den 1960er-Jahren kam sie für ihre Ausbildung nach Basel. Sie liess sich zur Heimerzieherin ausbilden und arbeitete danach in der «Waldruh» in Böckten mit geistig und körperlich eingeschränkten Kindern. Hier begegnete sie 1966 Peter Graf, ihrem späteren Ehemann. Drei Jahre später heirateten die beiden. Bald wurden sie Eltern von drei Töchtern.
Ursula Graf war eine Frau, die nicht nur für die eigenen Kinder sorgte. «Unser Haus war immer offen. Sie versammelte Kinder zum Basteln, Singen, Spielen und Zvieriessen», sagt Manuela Graf. Aus dieser Haltung heraus gründete Ursula Graf 1972 mit einer Freundin das «Mütterteam Sissach». Das Projekt war damals etwas ganz Neues und umfasste Spielgruppen, Hütenachmittage und Bastelkurse. Flächendeckend entwickelten sich solche Angebote in der Schweiz erst später.
Doch das Glück der Familie wurde überschattet. Ehemann Peter erkrankte, und sie pflegte ihn über drei Jahre hinweg, bis zu seinem Tod 1976. Da stand sie, 32-jährig, mit drei kleinen Kindern allein da. Manuela Graf: «Das war eine sehr harte Zeit. Unsere Mutter hatte kein Einkommen, keine Familie in der Nähe, keine Betreuungseinrichtungen. Nur das selbst gegründete Mütterteam.» Mit Mut, Improvisationskraft und einem unerschütterlichen Glauben an das Gute meisterte sie diese Jahre.
Ihre berufliche Leidenschaft blieb den Kindern gewidmet. Sie engagierte sich in der Kindergartenkommission, förderte die ersten Migrantenkinder in Sissach sprachlich und arbeitete später bis zu ihrer Pensionierung in einem Kindergarten für seh- und motorisch beeinträchtigte Kinder in Münchenstein. «Sie war mit Herz und Seele dabei», sagt Manuela Graf. «Sie hatte eine besondere Gabe, Kinder in ihrer Eigenart zu verstehen und zu fördern.»
Graf hatte eine unstillbare Neugier auf die Welt. Ihr Interesse galt Religionen, Völkern und grossen Kulturkreisen der Geschichte. Schon früh reiste sie nach Ägypten, Israel, Indien und auf den Sinai – immer auf der Suche nach Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
1994 – nach dem Zerfall der Sowjetunion – erfüllte sie sich mit 50 Jahren einen Lebenstraum: eine Reise nach Zentralasien entlang der alten Seidenstrassen, durch Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan bis nach China. «Davon hatte sie jahrzehntelang geträumt», sagt Manuela Graf.
Und weiter: «Nach China wollte sie eigentlich nicht. Doch weil es Zentralasien-Reisen nur mit China-Reisen kombiniert gab, musste sie da hin. Unsere Mutter sagte vor ihrer ersten Reise: ‹Also, wenn ich an der grossen Mauer bin, bleibe ich im Bus sitzen und lese etwas Interessantes. Die Mauer interessiert mich wirklich nicht!› Als sie zurückkam, war sie wie verwandelt und völlig fasziniert.»
China liess Ursula Graf nicht mehr los. Sie begann, alles zu lesen, was sie über die Geschichte, die Völker und die Kultur finden konnte. Besonders faszinierte sie die nordwestliche Region des Landes um Lanzhou, den Gelben Fluss und die Lössberge – Landschaften, die als Wiege der chinesischen Kultur und als Start der kontinentalen Seidenstrassen im Osten gelten.
Grosses Wissen
Fortan reiste sie jährlich nach China, meist mit Gruppen, die Jeep-Touren machten, aber auch allein mit einem Fahrer. Sie knüpfte Freundschaften – mit Lu, ihrem Fahrer, oder Wang Gang, einem christlichen Reiseführer aus Lanzhou, der wegen seines Glaubens verfolgt wurde. Ihre Reisen waren keine touristischen Trips, sondern Annäherungen an eine Region, die sie bis in die Tiefe verstehen wollte.
Einmal informierte sie sogar den Touristenverantwortlichen in Lanzhou über 6000 Jahre alte Tontöpfe, die sie unbedingt sehen wollte, und eine historische Stätte, von der dieser noch nie gehört hatte. Tatsächlich fanden sie die Töpfe verstaubt in einem Raum. «Später wurde das eine offizielle Sehenswürdigkeit», erzählt Manuela Graf. Solche Geschichten zeigen, dass Ursula Graf hinsah, sich einarbeitete und recherchierte.
Die Leidenschaft für China verband sie mit einem tiefen Mitgefühl für die Schwächsten. In den Jahren der Ein-Kind-Politik nahm sie Kontakt zur Liestalerin Gertrud Schweizer auf, die in einem chinesischen Waisenhaus für behinderte Kinder arbeitete. Ursula Graf reiste dorthin und half mit. Später, als Gertrud Schweizer in die Schweiz zurückkehrte, nahm Graf deren Adoptivsohn PinPin häufig zu sich, betreute ihn während der Ferien und wurde eine Ersatzgrossmutter für ihn.
2005 reiste Graf ein letztes Mal nach China, in die Berge des Amnye Machen, eine ihrer liebsten Landschaften. Im Juni 2006 trat sie in den Ruhestand, zwei Jahre später erhielt sie die Diagnose Krebs. Im Oktober 2009 starb die Sissacherin mit 65 Jahren.
Wer ihre Fotos im «ChinaHouse» betrachtet, spürt, dass diese Aufnahmen mehr sind als Reiseerinnerungen. Sie sind Ausdruck eines Lebens, das sich nie mit der Oberfläche begnügte. Ursula Graf suchte den Dialog: zwischen Menschen, Kulturen und Epochen. Ihr Werk, das in dieser Ausstellung wieder sichtbar wird, ist damit auch eine Einladung, mit offenen Augen und Herzen auf die Welt zu schauen.