Am Verkrusteten zerbrochen
07.01.2025 BöcktenCharles Brauer liest nach einer Pause wieder zum neuen Jahr
Charles Brauer hat seine traditionelle Lesung zugunsten von «Kultur Böckten» am ersten Sonntag im neuen Jahr dem deutschen Schriftsteller W. G. Sebald gewidmet. Dessen Porträt seines Lehrers namens Paul ...
Charles Brauer liest nach einer Pause wieder zum neuen Jahr
Charles Brauer hat seine traditionelle Lesung zugunsten von «Kultur Böckten» am ersten Sonntag im neuen Jahr dem deutschen Schriftsteller W. G. Sebald gewidmet. Dessen Porträt seines Lehrers namens Paul Bereyter spielt in der Kriegs- und Nachkriegszeit und ist somit so aktuell wie damals.
Jürg Gohl
Lehrer Paul Bereyter reisst in der Schulstube immer alle Fenster auf, weil er überzeugt ist, dass seine Schulklasse nur bei ausreichender Zufuhr von Sauerstoff denken könne. Das ist nur eine von vielen Szenen aus «Die Ausgewanderten» des deutschen Autors W. G. Sebald mit hoher Symbolkraft. Schauspieler und Vorleser Charles Brauer hat gemeinsam mit seiner Frau Lilot Hegi dieses Buch für die diesjährige Neujahrslesung ausgewählt, die der Wahl-Böckter zugunsten des örtlichen Kulturvereins traditionell am ersten Sonntag eines neuen Jahres hält.
Zu einer Ausnahme dieser Regel ist es im Vorjahr, also 2024, gekommen, als sich Brauer gemeinsam mit dem Itinger Schauspieler Danny Exnar für das Zweipersonen-Stück «Dienstags bei Morrie» von Jeffrey Hatcher zu Jahresbeginn am Ernst-Deutsch-Theater befand und deshalb die Neujahrslesung in den März verlegt werden musste. Das Hamburger Stück erwies sich als Erfolg und wurde deshalb nicht nur im Herbst vergangenen Jahres zusätzlich aufgeführt, sondern es steht dort auch im kommenden November mit dem dannzumal 90-jährigen Brauer auf dem Spielplan.
Fehl am Platz
Doch zurück von der Alster und dem grössten Privattheater Deutschlands ins Gemeindezentrum Weihermatt an der Ergolz. Dort hingen 90 Personen 90 Minuten dem einstigen «Tatort»- Kommissar an den Lippen, der die tragische Lebensgeschichte des Lehrers Paul Bereyter vortrug. Diese wird als eine von vier Biografien in «Die Auswanderer» von seinem «Schüler» W. G. Sebald in der Ich-Form nacherzählt.
Nach dem Selbstmord des beliebten Lehrers «aus dem Nichts heraus» recherchiert der Autor zu einem Teil am Genfersee über das Leben des «Vierteljuden» Bereyter. Dabei stösst er auf Antisemitismus in der Kriegsund Nachkriegszeit im konservativkatholischen und verkrusteten Allgäu. Die Stadt, in welcher die erste Hälfte dieser Biografie spielt, kürzt der Autor konsequent mit S. ab. Der Anfangsbuchstabe steht, wie Charles Brauer erläutert, für das Städtchen Sonthofen, das eine üble Nazi-Vergangenheit hat. Da ist ein Lehrer, der im Leseunterricht auf das offizielle Lesebuch verzichtet, fehl am Platz.
«Leider viele aktuelle Bezüge»
Sebald, der Autor, der in Freiburg und in Fribourg Germanistik und Anglistik studierte, später an englischen Universitäten lehrte und mit 57 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, fesselt das Publikum mit seiner Sprachkraft. Diese gelangt noch besser zur Geltung, wenn man sie von einem professionellen Leser vorgetragen erhält, der sich von den vielen Einschüben nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt.
Roland Bauhofer von «Kultur Böckten» bedankte sich am Sonntag bei Brauer für die «aufwühlende, berührende» Lesung mit «leider vielen aktuellen Bezügen». Er konnte dem berühmten Miteinwohner gleich noch das Versprechen abringen, die vor rund 30 Jahren begonnene Serie in einem Jahr fortzusetzen. «Hoffen wir», sagt Charles Brauer, dem die Serie hör- und sichtbar Spass bereitet, «dass wir dann wieder etwas mehr lachen dürfen.»