Als letzte Instanz kommt die Kesb ins Spiel
20.06.2025 SissachModell der Sekundarschule gegen Absentismus funktioniert
Fehlt eine Schülerin oder ein Schüler überdurchschnittlich häufig im Unterricht, gibt es an der Sekundarschule Sissach einen klaren Ablauf. Dieser hat zum Ziel, die Fehlzeiten zu verringern. Ein Modell, das ...
Modell der Sekundarschule gegen Absentismus funktioniert
Fehlt eine Schülerin oder ein Schüler überdurchschnittlich häufig im Unterricht, gibt es an der Sekundarschule Sissach einen klaren Ablauf. Dieser hat zum Ziel, die Fehlzeiten zu verringern. Ein Modell, das funktioniert, aber auch Grenzen hat.
Tobias Gfeller
Durchschnittlich einen ganzen Tag in der Woche arbeitet Schulleiter Dieter Gunzinger am Thema Absenzen. Dabei geht es an der Sekundarschule Sissach nicht um das klassische Absenzenwesen, wenn eine Schülerin oder ein Schüler einmal fehlt, es geht um schwerwiegende Fälle, wenn sich die Fehllektionen häufen. Da sich der Absentismus, das Fernbleiben von der Schule, seit der Corona-Pandemie verstärkt hat, greift die Sekundarschule Sissach früher ein. Es wurde ein Modell entwickelt, das es insbesondere Lehrpersonen erleichtern soll, nötigenfalls festgelegte Abläufe einzuleiten.
Darin festgehalten sind Möglichkeiten wie der Einbezug der Schulsozialarbeit, um den Schülerinnen und Schülern einen niederschwelligen Austausch mit einer klassenexternen Person zu gewähren, Lerncoachings, eine Notfallbegleitung durch Sozialpädagoginnen oder Sozialpädagogen, medizinische Behandlungen, Abklärungen, Therapieempfehlungen oder der Besuch der «Schulinsel». Die Optionen werden zuvor von der Klassenlehrperson mit den Eltern besprochen.
Verfehlen die eingeleiteten Massnahmen die gewünschte Wirkung, kommt Dieter Gunzinger als Schulleiter ins Spiel. Mit dem frühzeitigen Einschalten der Schulleitung sollen die Lehrpersonen vor der grossen Belastung eines komplizierten Falls geschützt werden, damit sie sich auf den Unterricht konzentrieren können. Den Schülerinnen und Schülern wird klargemacht, dass die Schule auf ihre Probleme Rücksicht nimmt. Im Gegenzug erwarte die Schulleitung aber auch ein Mitwirken der Schülerin oder des Schülers sowie der Eltern, damit die Fehlzeiten zurückgehen, betont Gunzinger.
Verunsicherung nach Pandemie
Nicht nur quantitativ haben die Fälle von Absentismus zugenommen, sondern auch von der Komplexität her, betont Dieter Gunzinger. «Die klassischen Schwänzerinnen und Schwänzer gibt es immer noch. Aber diese Zahl ist in etwa stabil. Bei der Mehrheit der Fälle gibt es teils schwerwiegende Hintergründe, die zu den vielen Fehllektionen führen.»
Als Beispiel für eine Folge der Pandemie nennt Gunzinger die damalige Vorgabe, bei leichtesten Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben. «Das sorgt bis heute bei Kindern und Eltern für Verunsicherung. Noch immer bleiben einzelne Schülerinnen und Schüler zu Hause, wenn sie sich nicht ganz fit fühlen.» Das ging so weit, dass die Schulleitung zum Schulstart 2023 einen Brief an alle Eltern versandte, in dem sie darauf hinwies, dass diese Vorgabe nicht mehr so streng gelte. Der Brief wurde von der Schulärztin und dem Schularzt abgesegnet.
Zu den Gründen, warum Kinder und Jugendliche der Schule regelmässig fernbleiben, gehören auch psychische Probleme, Unstimmigkeiten mit Lehrpersonen oder Konflikte zwischen den Schülerinnen und Schülern oder im Elternhaus. Auch das Phänomen Hypersensibilität auf Akustik, Gerüche oder zu viele Menschen im Raum hat gemäss Gunzinger zugenommen. Dies habe ihm die Kinder- und Jugendpsychiatrie bestätigt. Der Sissacher Schulleiter stellt dabei eine sinkende Resilienz fest. Eine gewisse Robustheit könne man erwarten und sei wichtig für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Dies müssten die Eltern ihren Kindern vermitteln.
Der Absentismus zeige sich von Kind zu Kind unterschiedlich. «Es gibt jene, die konsequent fehlen, egal, was für ein Unterricht ansteht, und es gibt jene, die immer am gleichen Tag zur gleichen Zeit oder im gleichen Fach fehlen. Entsprechend muss man die Situation individuell angehen.» In der Tendenz seien es seit der Pandemie mehr Mädchen, die regelmässig im Unterricht fehlen.
Kesb wird beigezogen
Zusätzlich kommt hinzu, dass auch Eltern ihren Kindern weniger zutrauen und den Absentismus teilweise sogar unterstützen oder zumindest tolerieren, indem sie die Absenzen unterschreiben. Greifen sämtliche Massnahmen nicht und fehlt bei Eltern die Kooperationsbereitschaft, wird als letzte Instanz die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingeschaltet. Es geht nicht darum, dass Eltern das Kind weggenommen wird, präzisiert Dieter Gunzinger. «Die Kesb verfügt über weitere Optionen und hat Kenntnisse, um in solchen schwierigen Lebenslagen zu helfen. Es ist aber auch ein Zeichen, dass die Familie beziehungsweise das Familiensystem Unterstützung braucht.»
Dieter Gunzinger würde eine einheitliche kantonale Regelung, wie sie SP-Landrat und Sekundarlehrer Ernst Schürch fordert, begrüssen. Der Schulleiter der Sekundarschule Sissach würde auch alle Absenzen ins Zeugnis eintragen – und dies nicht nur bei jenen Jugendlichen, die besonders viel gefehlt haben. «Zuverlässigkeit ist eine Leistung und gehört ins Zeugnis. Wenn jemand viele Absenzen hat und die klar begründet sind – zum Beispiel aufgrund längerer Krankheit oder eines Spitalaufenthalts – kann man dies anfügen.» Auch für Lehrbetriebe seien Absenzen eine wichtige Information, wie zuverlässig eine Schülerin oder ein Schüler ist.
Eine wirksame Methode könnten Bussen sein, betont Gunzinger. Auch hierfür brauche es einheitliche Regeln. «Vielleicht würde es helfen, wenn Bussen früher ausgesprochen werden können, auch für regelmässiges Zuspätkommen.» Das Fazit von Gunzinger ist unmissverständlich: «Schule ist nicht mehr so selbstverständlich, wie sie einmal war und wie es eigentlich sein sollte. Wir müssen wieder Verbindlichkeit herstellen, wie es sich für die Schulpflicht gehört.»
Regierung wird aktiv
vs. Der Regierungsrat nimmt die Eltern von Schulkindern stärker in die Pflicht. Wie am Dienstag mitgeteilt wurde, passt er zwei Verordnungen so an, dass Erziehungsberechtigte zur Teilnahme an ausgewählten Veranstaltungen und Gesprächen verpflichtet werden können. Primarund Sekundarschulen können zudem neu Vereinbarungen mit Eltern «zur Erreichung von Bildungs- und Erziehungszielen» abschliessen. Die beiden SP-Landräte und Lehrer Ernst Schürch (Rünenberg) und Jan Kirchmayr (Aesch) hatten im Parlament jüngst Vorstösse eingereicht, da in ihren Augen viele Eltern ihre Verantwortung nicht wahrnähmen und Schülerinnen und Schüler häufig dem Unterricht fernblieben (die «Volksstimme» berichtete).