HERZBLUT
07.11.2023 PorträtDichtestress
Was für ein Gedränge! Pardon, «Druggete» – wir sind ja in Basel. Haben die Leute den Wetterbericht nicht mitbekommen? Dass es derart stürmen und schiffen soll, dass man keinen Hund vor die Türe schickt? Aber vom ...
Dichtestress
Was für ein Gedränge! Pardon, «Druggete» – wir sind ja in Basel. Haben die Leute den Wetterbericht nicht mitbekommen? Dass es derart stürmen und schiffen soll, dass man keinen Hund vor die Türe schickt? Aber vom Besuch der Herbstmesse – gerade am Samstagabend – lässt sich scheinbar so rasch keiner abbringen. Und wir stecken auf dem Weg zum «Burner», einer Bahn, die man laut nachdrücklicher Versicherung meiner Tochter erlebt haben muss, in der Menschenmenge fest.
Das Timing ist suboptimal: Der Weg zum «Burner» auf der Rosentalanlage führt durch die «Fressmeile», und es ist Essenszeit. An der «Mäss» ist ja immer Essenszeit, um sieben Uhr herum also Essensessenszeit. Der ohnehin träge Fussverkehrsfluss wird noch zäher wegen ausser Kontrolle geratener Warteschlangen vor den Buden, Papis, die mit Kinderwagen auf Mamis warten und Fussballjunioren, die sich nicht zwischen Döner, Bratwurst und Burger entscheiden können. Wer nicht drängelt, schiebt und drückt, hat keine Chance auf ein Durchkommen.
Und wer unter Ochlophobie leidet, hat ein Problem. Ochlophobie ist die irrationale Angst vor vielen Menschen und Menschenmassen. Dabei geht es vor allem um überfüllte Plätze, Gedränge und die damit verbundene Angst, zerquetscht oder zertrampelt zu werden. Nun ist es nicht so, dass ich im vollen Tram oder Lift Todesängste ausstehen müsste. Aber das Unbehagen im Gedränge einer Menschenansammlung ist gross genug, dass ich Konzerte und Sportveranstaltungen ohne nummerierte Sitzplätze meide und Demonstrationen auslasse, bei denen man von der Polizei eingekesselt werden könnte. An der Fasnacht bevorzuge ich die hinterste Reihe, mit dem Bonus, nicht gestopft zu werden. Auch feiere ich trotz Freude an Feuerwerk den 1. August lieber im kleinen Kreis im Dorf anstatt mit Hunderttausenden in der Stadt.
Früher war das anders: Je mehr Menschen auf einem Fleck, desto Party. Ob der Dichtestress eine Alterserscheinung ist? Nein. Evolution: In der Biologie beschreibt Dichtestress einen extremen Stresszustand in Tierpopulationen. Der Stress schädigt die Tiere so stark, dass einige gar daran sterben – zur Regulierung der Population. Ein Beispiel: Auf einer Insel vor Amerika sollten asiatische Sika-Hirsche angesiedelt werden. Sie vermehrten sich zunächst im Eiltempo, die Tiere waren allesamt kerngesund. Dann halbierte sich die Population innerhalb von drei Jahren. Es gab so viele Hirsche, dass sich die Tiere ständig in die Quere kamen und sich bekämpften. Die Ausschüttung grosser Mengen an Stresshormonen schädigte mit der Zeit ihre Nieren: Tod durch Nierenversagen.
Die «Druggete» an der «Mäss» hat mich weder umgebracht noch krank gemacht. Nur gestresst: Als wir uns zum «Burner» durchgekämpft hatten, zeigte sich, dass die Warteschlange fast bis zur «Fressmeile» reichte. «Nicht mit mir!» Ich kämpfte mich noch einmal durch tausend Menschenleiber und flüchtete mit dem Tram vor dem Rummel. Selbstredend: Es war zum Brechen voll.
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»