KOMMENTAR
24.10.2023 WahlenTempo raus!
David Thommen
Kriege, Klima, Krankenkassenprämien, Konjunkturabschwung und andere zurückliegende Krisen wie Corona und CS oder noch drohende wie Stromknappheit oder zunehmende Flüchtlingsproblematik: Die Weltlage ist ...
Tempo raus!
David Thommen
Kriege, Klima, Krankenkassenprämien, Konjunkturabschwung und andere zurückliegende Krisen wie Corona und CS oder noch drohende wie Stromknappheit oder zunehmende Flüchtlingsproblematik: Die Weltlage ist mittlerweile dermassen aus den Fugen geraten und komplex geworden, dass es einen fast schwindelt. Gerne würde man dieser Tage «Anhalten!» rufen.
Progressive Kräfte, welche die Spirale mit einem weiteren ökologischen oder gesellschaftspolitischen Umbau noch schneller drehen lassen möchten, haben es in diesem Umfeld schwer, wie sich am Sonntag gezeigt hat. Vor allem auch, wenn der zuverlässig wählende Mittelstand hinter jeder weiteren Neuerung wohl nicht ganz zu Unrecht auch einen weiteren Angriff auf das eigene Portemonnaie vermuten muss (Energiepreise, Umverteilung der Gesundheitskosten usw.). Was sich am Sonntag in der Schweiz zugetragen hat, ist daher nicht einfach reflexartig als böser «Orbán-Meloni-Rechtsrutsch» zu deuten (man sollte vielleicht nicht zu viele Politik-Talkshows mit dem ewigen AfD-Gezänke im Deutschen TV schauen), sondern es war vor allem ein kleiner Tritt auf die Bremse: Tempo raus nach zwei rasanten (und zuweilen tatsächlich auch produktiven) Legislaturen in einem zu dynamisch gewordenen Umfeld, bevor es uns mental alle aus der Kurve haut! Sobald das Tempo zusammengefallen ist, dürften progressive Kräfte wieder gestärkt werden. So funktioniert die Schweiz. Deshalb wählen wir alle vier Jahre.
In schwierigen Zeiten aber werden bevorzugt konservative (SVP) und mässigende Parteien («Die Mitte») gewählt und, ja, auch die traditionelle SP, der man seit Jahrzehnten Verlässlichkeit und Kompetenz attestiert, die über ein einzelnes Thema hinausgeht. Von den beiden stärksten Parteien SVP und SP darf man einfordern, dass sie ihrer Regierungsverantwortung nun auch gerecht werden – vor allem auch im Ton. Das Kerngeschäft der Schweizer Politik ist und bleibt der leise Kompromiss und nicht die andauernde ätzende Provokation.
Zumindest im Kanton Baselland ist am Sonntag im Vergleich zu 2019 nichts passiert: Alle Bisherigen wurden erneut gewählt. Ich persönlich hätte viel auf diesen Ausgang gewettet. Dass die Grünen einen fast 8-Prozent-Absturz hinnehmen mussten und Florence Brenzikofer so sehr zittern musste, hätte ich aber nicht für möglich gehalten. Dieser Tiefschlag für die Grünen ist in Kenntnis des Resultats vom Sonntagabend zwar leicht erklärbar mit der Themenkonjunktur oder der BL-Nationalratsliste ohne Stimmengarantin Maya Graf. Allerdings haben sich die Grünen im Baselbiet auch selbst geschadet: Sie haben eines ihrer zugkräftigsten Talente, die Sissacher Landrätin Laura Grazioli, von einer Kandidatur ausgeschlossen, weil sie bei den Covid-Massnahmen eine andere, zweifellos streitbare Meinung vertritt. Solche ideologischmoralischen Attitüden müsste man sich leisten können – die Grünen können das mit Blick auf das schlechte Resultat fast aller ihrer Kandidatinnen und Kandidaten aber nicht. Die Partei wird lernen müssen, mit partiell abweichenden Meinungen zu leben. Eine Volkspartei bringt das nicht um.
Und noch ein Wort zur Bestätigungswahl von Ständerätin Maya Graf? Nein, das wäre überflüssig, das gute Resultat ist Kommentar genug! Herzliche Gratulation der überzeugenden Baselbieter Ständerätin, von der sich ein ganzer Kanton offensichtlich gut vertreten fühlt – trotz ihres ausgeprägt links-grünen Profils. So viel auch zum Thema «Rechtsrutsch» … Konkurrent Sven Inäbnit (FDP) gebührt der Dank, sich tapfer und engagiert um einen immerhin halbwegs unterhaltsamen Wahlkampf bemüht zu haben.