«Man muss das Fahren im Füüdle spüren …»
21.09.2023 GelterkindenVor 30 Jahren kam das abrupte Ende der Maloya AG – Teil II: der «Maloyaner»
Im Alter von 25 Jahren ist der Sissacher Willy Haldimann als Testfahrer bei der Reifenfabrik Maloya in Gelterkinden angestellt worden. Bis zum verhängnisvollen Ende von Maloya brachte es ...
Vor 30 Jahren kam das abrupte Ende der Maloya AG – Teil II: der «Maloyaner»
Im Alter von 25 Jahren ist der Sissacher Willy Haldimann als Testfahrer bei der Reifenfabrik Maloya in Gelterkinden angestellt worden. Bis zum verhängnisvollen Ende von Maloya brachte es Haldimann auf rund 1,7 Millionen gefahrene Testkilometer und ein paar heikle Situationen.
Robert Bösiger
Wir schreiben den 29. Mai 1940. Der Familie Paul und Rosa Haldimann-von Däniken wird ein Knäblein geboren. Getauft wird es auf den Namen Willy. Gut 83 Jahre später sitzen wir in Tecknau bei Willy Haldimann in der Stube und unterhalten uns über sein Leben, geprägt von seiner Tätigkeit als Testfahrer beim Gelterkinder Reifenhersteller Maloya AG.
Nein, Willy Haldimann hätte es sich in jungen Jahren nie träumen lassen, dereinst als offizieller Testfahrer von Maloya «auf die Tube zu drücken». Lieber wollte er als Bube später einmal Indianer werden. Oder seinem Vorbild, John Wayne, nacheifern.
Zusammen mit seiner Schwester Lotti verlebt Willy eine weitgehend glückliche Kindheit an der Margarethenstrasse in Sissach, auch wenn sie jeweils bei Fliegeralarm «sofort nach Hause mussten, die Fenster aufmachen und die Läden schliessen» mussten.
Zum Schicksalstag wird der 22. Mai 1949. An diesem Sonntag wird sein Vater beim «Sommerau-Rank» mit seinem Motorrad von einem Auto hinausgedrängt; er stürzt so unglücklich, dass er tags darauf seinen Verletzungen erliegt. Die bis dahin unbeschwerte Kindheit gerät komplett aus den Fugen. Auch in der Schule gibt es plötzlich Probleme. Haldimann erinnert sich: «Ich wurde zum Einzelgänger, wurde gemieden. Und Lehrer Willy Hofer hat mich geplagt, geschlagen und vor der Klasse gedemütigt.»
Der Grund: Zuerst habe er beim Bruder von Hofer in dessen Konditorei mit Hilfsarbeiten ausgeholfen. Dieser aber, homosexuell, habe ihn missbraucht. Seine Mutter musste arbeiten und konnte sich nicht genügend zur Wehr setzen. Es gab einen Gerichtsfall – und von da an habe ihm Lehrer Hofer das Leben zur Hölle gemacht. «I ha mi müesse duurebysse.»
Berufliche Lehr- und Wanderjahre
In der Sekundarschule (6.–8. Klasse) wird der junge Willy Haldimann dann durch Lehrer Paul Nydegger gefördert. Dieser, sagt er, sei «für mich wie ein Ersatzvater gewesen». Durch seine Grossmutter Leontina von Däniken und Lehrer Nydegger erhält er ab 1956 eine Lehrstelle als Maschinenschlosser in Olten.
Weil die Mutter einen Stiefvater ins Haus holt, hält es Willy Haldimann nicht mehr aus zu Hause – und zieht an seinem 20. Geburtstag Hals über Kopf nach Genf. Er findet eine Stelle bei Scholl Frères im Waggonbau und bleibt bis 1961 in der Romandie.
Im Jahr 1961 zurück in Sissach, kann er zunächst bei Von Arx in Sissach (heute Emerson) arbeiten, dann bei der AGA in Pratteln und bei Bell in Basel. Hier, in der Grossmetzgerei, hätte es ihm als Betriebsmechaniker zwar gefallen, aber er habe den Schlacht-Geruch einfach nicht ertragen. So heuert er in der Six Madun in Sissach an, lässt sich zum Ölfeuerungsmonteur ausbilden, bleibt aber auch nicht lange.
Verheissungsvolles Inserat
Haldimann entdeckt in der Ausgabe vom 28. Mai 1965 in der «Volksstimme» eine Annonce, wonach die Pneu- und Gummiwerke Maloja AG «per sofort einen jüngeren, gut beleumdeten Automobilisten als Testfahrer» suchen. Als Anforderungen genannt wurden: «Gutes fahrerisches Können sowie Freude daran, längere Zeit am Steuer zu sitzen». Er bewarb sich – und wurde prompt angestellt.
Mit dieser Anstellung begann für den jungen Mann ein ebenso aufregendes wie aussergewöhnliches Berufsleben. Haldimann hatte die Aufgabe, die Fahreigenschaften der hauseigenen Bereifungen auf Herz und Nieren zu prüfen – und dies unter extremen Bedingungen: auf trockener Fahrbahn, auf nassen, gefrorenen und verschneiten Pisten. Und selbstredend immer mit Tempo.
Getestet wurde nicht nur auf dem Maloya-Areal, sondern auch auf dem Flughafen Basel-Mulhouse, auf Alpenstrecken und Rennparcours im In- und Ausland («Im TÜV-Süd-Testzentrum in Jesenwang haben wir Karl Dall und Nena angetroffen.»). Getestet wurde auch auf noch nicht für den Verkehr freigegebenen Autobahnteilstücken und dem gefrorenen Silsersee. Schneeversuche fanden am Maloja-Pass statt, wo auch die Konkurrenz – Goodyear – Testfahrten durchführte. Mit Robert Wüest wurde mit den Jahren ein zweiter Testfahrer angeheuert.
Über 3 Millionen Kilometer
Auf unglaubliche 1,7 Millionen gefahrene Testkilometer hat es Willy Haldimann im Verlauf seiner Jahre bei Maloya gebracht. Das entspricht einer über 40-fachen Erdumrundung. Hinzu kommen noch die privat gefahrenen Kilometer, die mit rund 1,4 Millionen Kilometern auch nicht eben bescheiden ausfallen. Er habe immer gern am Steuer gesessen – «bis heute», gibt Haldimann zu Protokoll.
Gab es Unfälle in Ihrer Testfahrer-Karriere?
Willy Haldimann: Mehr als Sie glauben! Es ist halt immer ein Risiko dabei.
Bitte erzählen Sie …
Ich habe einige Unfälle und Saltos gemacht in meinem Leben. Den letzten – einen dreifachen – gab es 1988 auf der Strecke vom Rothenflüher Asp nach Wegenstetten. Da bin ich mit 180 Stundenkilometern den Berg hinab. Doch den schlimmsten Unfall hatte ich in Deutschland: Auf einer Kreuzung ist mir ein Porsche voll in die Seite gefahren. Das Auto hat es aufgestellt und das Benzin ist ausgelaufen. Da hatte ich viel Glück …Glück im Unglück.»
Willy Haldimann räumt ein, dass solche Testfahrten meist ohne spezielle Bewilligungen erfolgt sind und heute «vermutlich so nicht mehr möglich wären». Bei diesen Testfahrten ging es vor allem darum, die Haftung der Reifen bei trockener Fahrbahn, bei Nässe, bei Aquaplaning-Gefahr sowie bei Schnee und Eis zu testen. Gefahren wurde hauptsächlich auf VW, Opel, Volvo, Porsche und Mercedes.
Immer, wenn Haldimann einen «Tätsch» gemacht hat, sei Seniorchef Fritz Maurer zu ihm gekommen, habe ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: «Willy, du musst bald wieder fahren. Es ist ja nur Blechschaden – und den kann man flicken.»
Die Maloya- und Familienalben von Willy Haldimann sind prall gefüllt mit Reminiszenzen, Fotos, Skizzen und Erinnerungen. Zum Beispiel der Besuch von Keke Rosberg, dem finnischen Formel-1-Rennpiloten im Maloya-Labor. Oder Jo «Seppi» Siffert. Der Zufall will es, dass der Kameramann des Films über Jo Siffert «Live fast, die young» ebenfalls einen Sissacher Bezug hat: Es handelt sich um Pio Corradi, den Onkel von Regierungsrat Isaac Reber. Der Fribourger Autorennfahrer «Seppi» sei ihm in seiner ganzen Art und Weise ein Vorbild gewesen, gibt Willy Haldimann zu.
Waren Sie ein verwegener Typ?
Willy Haldimann: Nicht unbedingt. Trotzdem bin ich meistens ans Limit gegangen, um die für die Produktion wichtigen Erkenntnisse zu gewinnen.
Einmal bin ich mit einem Porsche zweimal hintereinander die Strecke Gelterkinden–Kreuzlingen und retour gefahren. Damals hat man noch frei fahren können. Den Bözberg hinab hatte ich Tempo 180 drauf.
Wie konnten Sie gefährliche Situationen vermeiden?
Irgendwie habe ich es meistens gespürt, wenn es plötzlich Gegenverkehr gegeben hat. Übrigens: Man muss das Fahren im Füüdle spüren …
Im Jahr 1988 macht Willy Haldimann innerbetrieblich einen teilweisen Wechsel in die Qualitätssicherung. Einerseits bleibt er Testfahrer bis 1988. Andererseits betätigt er sich als Reifenprofil-Entwickler und Konstrukteur.
Bis zur Pension bei der JRG
Das plötzliche Aus der Firma Maloya 1993 in Gelterkinden fährt Willy Haldimann wie allen anderen Maloyanern heftig in die Knochen. Dazu sagt er: «Das war eine traurige Angelegenheit!» Anschliessend habe er 36 Bewerbungen geschrieben, bis er eines schönen Tages gleich drei Angebote auf dem Tisch hatte. Er entschied sich für die Sissacher Firma JRG Gunzenhauser AG (heute GF JRG). Er wurde verantwortlich für die Qualitätssicherung der mechanischen Produktion. Die letzten 12 Jahre bis zu seiner Pension konnte er bei der JRG bleiben.
Vielfältige Interessen
Obwohl seit 1998 in Tecknau zu Hause, fühlt sich Willy Haldimann noch immer als Sissacher. «Und als Fan der Sissacher Fluh», wie er ergänzt. Als Jugendlicher spielt er Eishockey, fährt Velo. Und ab 1957 betätigt er sich als Schütze – bei den Feldschützen. Einige Jahre ist Haldimann häufig tauchen gegangen. Und auch Kendo, die japanische Kampfsportart, hat er einige Zeit intensiv betrieben.
«Ja, leider …», antwortet Willy Haldimann auf die Frage, ob er nicht auch einmal politisch aktiv gewesen sei. Tatsächlich liess er sich einst auf die Landratsliste der Schweizer Demokraten setzen. Mit 943 Stimmen wurde er zwar nicht gewählt, holte sich aber einen Achtungserfolg. Bei den gleichen Wahlen wurde die Grüne Maya Graf übrigens mit 1358 Stimmen ins Kantonsparlament gewählt. Seine Erkenntnis damals: «Parteipolitik ist nichts für mich!»
Mit seiner Frau Romy, die er zu Beginn der 1960er-Jahre kennengelernt hat, als sie im Restaurant Sternen aushalf, ist Willy Haldimann schon bald 60 Jahre glücklich verheiratet. Seit sie krank ist, kümmert er sich liebevoll um sie. «Wir haben eine gute Familie mit unseren drei Söhnen, fünf Grosskindern und zwei Urenkeln.» Richard, der eine Sohn, ist in die Fussstapfen des Vaters getreten; er ist Oldtimer-Rennfahrer.
Haldimann setzt sich auch heute noch gerne hinters Lenkrad seines VW Polo. Allerdings hält er sich heutzutage selbstverständlich an die Verkehrsregeln und Tempolimits. Mit einem verschmitzten Lächeln räumt er ein: «Wenn ich alleine unterwegs bin, kann es vorkommen, dass ich zwischendurch einmal etwas aufs Gas drücke …»
Bisher erschienen: «Dank rostigem Nagel zum Reifenhersteller» («Volksstimme» vom 7. September). Der dritte und letzte Teil unserer Serie zum Aus der Maloya vor 30 Jahren erscheint in einer der kommenden Ausgaben.