Immer wieder Südsee (II): Raiatea, Gesellschaftsinseln

Von Raiatea aus soll die grosse Reise der Polynesier über den Pazifik einst gestartet sein. Ein nur kurzer Zwischenstopp von James Cook dürfte dafür gesorgt haben, dass sich Ratten und anderes Ungeziefer hier verbreitet haben. Säugetiere gab es auf der Insel vorher nicht.

Hanspeter Gsell

Ich erwache mitten in der Nacht. Unser Schiff hat auf der Insel Huahine einen Zwischenhalt eingelegt. Im Licht von gewaltigen Bogenlampen werden Hunderte Säcke mit Baumaterial von bordeigenen Kränen aufs Quai abgeladen.

Wir erfahren, dass zwei Schiffe, die Baumaterial nach Huahine und Raiatea hätten transportieren sollen, im Hafen von Papeete auf Grund gelaufen sind. Sie sollen beide infolge Altersschwäche abgesoffen sein. Nachdem aus dem Ausland Ersatzware geliefert worden war, hat unsere MS Aranui den Transport auf die Inseln übernommen.

Es verging zuerst eine ganze Weile, bis die Hafenarbeiter am Quai angekommen waren. Man hatte sie nicht über den nächtlichen Transport orientiert. Warum auch? Man hat zwar nicht viel Geld, Zeit jedoch im Überfluss.

Glückliche Inseln
Das spirituelle Zentrum aller Polynesier liegt in Raiatea. Genauer gesagt in den Tempelanlagen des «Marae Taputapuatea». Hier soll die weite Reise der Polynesier über den Pazifik begonnen haben. Nach einem Segen, heiligen Ritualen und ausgiebigen Feierlichkeiten reisten sie auf gewaltigen Auslegerbooten ins Unbekannte.

Die Besiedlung der Gesellschaftsinseln erfolgte um 200 v. Chr., etwa zeitgleich mit der Besiedlung der Marquesas. Mit diesen zusammen bildeten sie das polynesische Kernland und damit das Sprungbrett zur Besiedlung von Hawaii und Neuseeland.

In der langen Siedlungsgeschichte hat der Mensch Raiatea durch den Anbau von Nutzpflanzen entscheidend verändert. An den Küsten werden Kokospalmen, Brotfruchtbäume, Taro, Yams, Maniok, Süsskartoffeln und verschiedene tropische Früchte angebaut. Exportiert werden heute Ananas und Vanille aus Familienbetrieben und kleinen Kooperativen.

Während der Zeit auf Raiatea hatte Captain Cook die Schiffe «Resolution» und «Discovery» an den Strand bringen lassen, um dringend notwendige Wartungsarbeiten durchzuführen. Das muss für Ratten, Küchenschaben und anderes Ungeziefer ausreichend Zeit gewesen sein, um an Land zu gehen und sich umgehend zu vermehren.

Säugetiere gab es auf den pazifischen Inseln ursprünglich nicht, sie wurden ausnahmslos vom Menschen eingeführt. Weder Schlangen noch Skorpione noch anderes «Gewürm» ist auf den Inseln zu finden. Das bedrohlichste Tier der Gegend ist gerade mal ein paar Millimeter gross: der Mosquito.

Auf unserer Reise dabei ist auch Dr. Josiane Di Giorgio. Die Polynesierin mit dem italienischen Namen stammt ursprünglich aus Huahine und war über lange Zeit Professorin für Sprachen und Geschichte an der Universität von Papeete. Ihre Ausführungen zu den Inseln und ihren Menschen sind äusserst lehrreich, spannend und unterhaltsam.

Fürstentum Raiatea
Auf Raiatea bildeten sich unabhängige Fürstentümer heraus, die wiederum in einzelne Clans aufgeteilt waren. Die Gesellschaft war in mehrere, strikt getrennte soziale Ebenen gegliedert. An deren Spitze standen die «Ariki», die Häuptlinge, deren Führungsanspruch allein durch ihre Abstammung legitimiert war. Sie waren Besitzer von Grund und Boden und unumstrittene politische und religiöse Oberhäupter.

Raiatea wurde schnell das geistige und religiöse Zentrum der Gesellschaftsinseln. Der belgische Kaufmann und Reiseschriftsteller Jacques-Antoine Moerenhout beschrieb die Insel im Jahr 1834 folgendermassen:
«Raiatea dominierte die anderen Inseln und entwickelte sich zum eigentlichen Sitz der polynesischen Theokratie. Dort lebte der Grossmeister der zwölf Logen, der «Arioi», von dort kamen die Orakel und Prophezeiungen, von denen in den Annalen berichtet wird, und auch die Tabus und religiösen Riten, die in allen Regionen Polynesiens Gültigkeit hatten.»

Für Europa entdeckt wurde Raiatea von James Cook am 20. Juli 1769 während seiner ersten Reise. Von Tahiti kommend fuhr er mit der «Endeavour» durch die den Polynesiern heilige Riffpassage «Avamo’a» und ging in der Nähe des «Marae Taputapuatea» an Land.

Als Marae (ausgesprochen: Mara-i, auch Ma-ra-e) bezeichnet man in den polynesischen Kulturen ein zeremoniellen Zwecken vorbehaltenes, abgegrenztes Areal. Meist ist es ein rechteckiger, eingefriedeter, steinerner Platz, an dessen Ende sich eine ebenfalls steinerne Plattform erhebt. Man findet solche Kultstätten im gesamten Polynesischen Dreieck, von Neuseeland im Westen bis zur Osterinsel im Osten, von Hawaii im Norden bis zu den Austral-Inseln im Süden.

Taputapuatea
Hauptsehenswürdigkeit von Raiatea ist zweifellos die Kultstätte «Taputapuatea» (Tapu-tapu-a-tea). Sie gehört mittlerweile zum Unesco-Welterbe. Wir erreichen sie über die Ringstrasse, die um die ganze Insel führt. Ein Museumswärter, alt und runzelig, sitzt unter einem grossen Brotfruchtbaum. Unbeweglich scheint er aufs offene Meer zu starren.

«Taputapuatea» umfasst mehrere Plattformen, die ursprünglich in einem heiligen, mit Tabu belegten Hain verteilt waren. Einige der Anlagen hat man restauriert. Die grösste Plattform wurde im frühen 17. Jahrhundert aus gewaltigen, aufrecht stehenden Kalksteinplatten errichtet und ist dem Kriegsgott Oro geweiht. In Polynesien hat das Marae-Konzept eine besondere Eigenart entwickelt: die steinerne Rückenstütze. Es handelte sich dabei um den Sitzplatz des Häuptlings, des Chiefs.

Über die religiösen Zeremonien ist wenig bekannt, da die Riten nur mündlich überliefert sind. Bekannt ist nur die Präsentation der wechselnden Götterbildnisse, die immer wieder gewaschen und neu mit Tapa, einem Rindenbaststoff, bekleidet wurden. In «Taputapuatea» traten die Lebenden in Kontakt mit Göttern und Toten. «Auf dem Plateau versammelten sich die Menschen des polynesischen Dreiecks zu politischen und religiösen Zusammenkünften», erklärt man uns. «Hier die Neuseeländer, dort die Menschen der Cook- und dort die der Gesellschaftsinseln.»

Die hintere Front ist von einer höheren Plattform aus Korallenblöcken gesäumt. Darauf wurden die erwähnten Götterfiguren präsentiert. Am Rande reihte sich Tiki an Tiki, steinerne Statuen, die für Gottheiten oder Verstorbene standen. Ihre Kraft wird bis heute gefürchtet. Es kursiert so manche Geschichte über mysteriös zu Tode gekommene Menschen, die Tikis entfernt haben sollen.

Menschenopfer
Tavaearii (Tava-e-ari-i) lehnt sich an eine der beiden Basaltsäulen, die aus dem Pflaster aufragen, und sagt: «Hier wurden die Menschenopfer geköpft.» Der Alte lacht, wie ein Schulbub, der flunkert. Aber es ist wohl wahr, auch James Cook hat bei seiner dritten Reise ein solches Ritual beobachtet und dokumentiert. Allerdings köpfte man dort die Opfer nicht. Man haute ihnen mit massiven Stöcken so lange auf die Köpfe, bis sie tot waren.

Von hier kamen auch die Prophezeiungen und Riten um den Gott Oro, die in allen Regionen Ostpolynesiens verbreitet wurden. Hier erhielten Prinzen das «Mana», die spirituelle Macht, neues Land zu erobern. Einen mit «Mana» aufgeladenen Stein vom Tempel nahmen sie mit in ihre neue Welt, er wurde zum Grundstein neuer Kultstätten mit dem Namen «Taputapuatea» auf den Tuamotu-, Australund Cookinseln bis nach Neuseeland.

Wir folgen unserem Geschichtenerzähler weiter zum «Marae Hauviri» am Meeresufer, in dessen Mitte ein noch höherer Felsblock aufgerichtet wurde. «Hier wurde der König inthronisiert», erklärt man uns. Die Polynesier respektieren die alten Stätten noch heute. Es würde beispielsweise keinem Polynesier einfallen, einen Stein an der Marae zu verrücken oder Abfall liegenzulassen.

Ein deutschsprachiger Guide von der «Aranui» hat während der Besichtigung übersetzt. Nachdem diese beendet ist, kommt er noch einmal auf den eingangs erwähnten Museumswärter zurück. Er meint, dieser habe schon immer bewegungslos unter dem grossen Brotfruchtbaum gesessen. Er sei sich nicht sicher, ob er überhaupt noch leben würde. Er ging auf ihn zu und tippte ihn kurz an die Brust …

Wir fahren zurück nach Uturoa. Kapitän Arnaud Pichard hat die «Aranaui» für die Weiterfahrt vorbereitet. Endlich geht’s weiter zu den Cookinseln.

In loser Folge erscheint in der «Volksstimme» die sechsteilige Serie «Immer wieder Südsee» zur Reise des Sissacher Schriftstellers Hanspeter Gsell von Papeete über Raiatea zu den Cookinseln und zurück nach Bora Bora und Huahine.

Raiatea

hpg. Raiatea zählt geografisch zu den Gesellschaftsinseln (Îles de la Société), genauer zu den «Inseln unter dem Wind» (Îles Sous-le-Vent). Sie ist die zweitgrösste Insel des Archipels. Raiatea gehört politisch zum Überseegebiet Französisch-Polynesien. Sie hat eine Fläche von 194 Quadratkilometern und 13 000 Einwohner (Stand: 2017). Hauptort und grösstes Dorf der Insel ist Uturoa.

Im polynesischen Dreieck

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