Sinn und Unsinn von Urnengängen

Nicht alles, was man mir damals in der Kinderstube beigebracht hat, war gut und nachhaltig. Gut war: Unsere Eltern haben uns gelehrt, das unverschämte Glück und Privileg als Schweizerinnen und Schweizer, durch direkte Demokratie an Sachgeschäften mitzubestimmen, hochzuhalten. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass wir als junge Familie fast zehn Jahre im Ausland gelebt haben.

Ich habe das bis heute, 40 Jahre lang, beherzigt, als Einziger unter uns drei Kindern. Und habe versucht, mit meiner Frau diese Haltung auch unseren Kindern vorzuleben und weiterzugeben. Wenige Abstimmungen haben wir verpasst.

Als Pfarrer in der reformierten Kirche lebe und arbeite ich ja in einer urdemokratischen und superföderalistischen Organisation. Erträge der Reformation damals haben die demokratische Geschichte unseres Landes auch nach 1848 mitgeprägt.

In den vergangenen Jahren sind meine Zweifel über Sinn oder Unsinn direkter Demokratie jedoch gewachsen. Viele unserer Bekannten und Freundinnen haben sich längst vom «Abstimmen» verabschiedet, gehen höchstens noch alle vier Jahre «Leute wählen». Das andere sei blosse «politische Folklore», völlig überholt und von vorgestern, auch weil Themen und Vorlagen oft unverständlich und multikomplex sind. Es sei davon auszugehen, dass Parlamentsbeschlüsse in Liestal und Bern gut austariert sind und einen sinnvollen Kompromiss zwischen den politischen Kräften im Land darstellen, den Fortschrittlichen und den Ewiggestrigen. Das hat was. Andere behaupten lapidar: «Die da oben machen eh, was sie wollen.»

Auch am vergangenen Sonntag waren wir zu Urne geladen, zu drei spannenden Themen. Ich bin zunehmend verärgert. In den vergangenen zehn Jahren wird im Vorgang von Abstimmungen von politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen (und NPOs) zunehmend scham- und hemmungslos übertrieben, verunsichert, betrogen, gelogen – und vor allem: verängstigt! Meinungen und Allgemeinplätze werden frech als Wahrheit verkauft, Erkenntnisse von Technik und Wissenschaft immer wieder einfach ausgeblendet oder gar negiert. Donald Trump lässt grüssen. Das Klimathema ist ein wunderbares Beispiel hierfür. Die Vergiftung des politischen Klimas erscheint bald gravierender als die Klimaveränderung und deren Herausforderungen selbst.

Wir ärgern uns zu Recht über Steuermaximierung – und -wettbewerb, Grosskonzerne und Superreiche. Die neusten OECD-Richtlinien wollen auch in der Schweiz umgesetzt werden. Das gehört sich einfach: 80 Prozent Ja. Gleichzeitig lese ich, dass in vielen Ländern unserer «sauberen» Welt (und in einzelnen Kantonen) bereits gesetzliche Regelungen vorbereitet sind, die den Grossen und Mächtigen statt Steuerrabatte einfach Subventionen gewähren wollen.

Der Mammon – statt ein globaler Konsens über Gerechtigkeit – regiert ganz offensichtlich weiterhin die Welt. Wozu also meinen Stimmzettel hierzu einwerfen?

Alles nur heisse Luft und «Schein»?

Matthias Plattner wurde 1962 geboren und ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen.

MEINE WELT

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