Zu Besuch beim alt Gemeindepräsidenten Hans Dähler präsidenten Hans Dähler

In seinem Dorf wird Hans Dähler öfter als «wandelnde Dorfchronik» bezeichnet. Manche kennen den Senior noch als Gemeindepräsidenten oder denken gar an den Friseur, der ihnen nach Feierabend die Haare geschnitten hatte. Kommenden Monat kann der älteste Oltinger seinen 99. Geburtstag feiern.

Brigitte Keller

Aus Anlass des Jubiläums «700 Jahre Eidgenossenschaft» hatte Hans Dähler seinerzeit angestossen, eine kleine Rückschau auf die vergangenen 100 Jahre Oltinger Geschichte als Büchlein herauszugeben. Dafür holte er 1991 die alten Protokollbücher aus dem Archiv und trug – in unzähligen Stunden – viele erwähnenswerte Daten und Ereignisse zusammen. Aus dem Jahr 1924 hat es folgendes Ereignis in das Büchlein geschafft: «Der Vertrag mit der Schweizerischen Obertelegraphendirektion für die Bedienung der Gemeindesprechstation wird unterzeichnet.» In jenem Jahr, also vor mittlerweile 99 Jahren, war es denn auch, als am 9. Juni an der Hauptstrasse 24 Hans Dähler zur Welt kam.

Der Vater stammte aus Seftigen im Kanton Bern. Seine Arbeit beim Bau der Hochspannungsleitung führte ihn nach Oltingen, wo er seine zukünftige Frau, Marie Buess, kennenlernte. Hans Dähler wuchs mit einer älteren und einer jüngeren Schwester in bescheidenen Verhältnissen auf. Es herrschte Krisenzeit, Arbeitsplätze waren rar. Wie seinerzeit weit verbreitet, trug die Mutter mit Posamenten entscheidend zum Familieneinkommen bei. «Ich bin eigentlich ein Webstübler, ich bin in einer Webstube aufgewachsen», sagt Dähler dazu mit einem Augenzwinkern.

Sirenenalarm
Die obligatorische Schulzeit in Oltingen ging für ihn zu Ende und gleichzeitig verdüsterte sich die Welt. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Vater Dähler musste einrücken und im Stall und in der Scheune des Elternhauses quartierten sich Soldaten ein. Etwas Positives ist aus dieser Zeit hervorgegangen. «Meine ältere Schwester hat dann einen jener Soldaten aus Lausen geheiratet.»

An eine Berufslehre war im Jahr 1940 vorerst nicht zu denken. Durch einen Zufall erfuhr Dähler von einer Stelle als Bäckerei-Ausläufer in Binningen, wo er dann im Mai desselben Jahres beginnen konnte. Eine strenge Zeit für den erst 16-Jährigen begann. Er hatte fünf Touren am Morgen, und am Nachmittag musste er die Backstube putzen. Unvergesslich geblieben sind ihm die heulenden Sirenen. So etwas kannte er als junger Bursche aus dem Oberbaselbieter Dorf nicht. «In manchen Nächten wurden wir geweckt und mussten sofort in den Keller gehen.» Man habe nie gewusst, ob und wo die Bomben fallen würden. «Ich bin Ende November nach Hause zurück und am 17. Dezember haben sie Binningen bombardiert.»

Die weitere Suche nach Arbeit führte ihn zunächst nach Sissach. Für zwei Monate arbeitete er bei der Eisen- und Stahlwarenfabrik für einen Stundenlohn von 45 Rappen. Sein ehemaliger Oberstufenlehrer befand, er sollte unbedingt eine Lehre machen können. Berufe und Möglichkeiten wurden diskutiert. Mit dem Resultat, dass Dähler am 3. März 1941 bei Hans Schneider in Gelterkinden die dreieinhalbjährige Lehre zum Möbelschreiner beginnen konnte.

Herzklopfen, Heirat und Kinder
Im Sommer fuhr er mit dem Velo nach Gelterkinden und zurück. «Im Winter, damals hatte es noch Schnee, hiess es zu Fuss nach Tecknau hinunter zum Bahnhof und dort auf den Viertelvor-sieben-Zug», erinnert Dähler. Und am Abend zurück. «Eine Stunde braucht man zu Fuss von Tecknau hinauf nach Oltingen.» Alle, die morgens und abends zu Fuss gehen «durften», sammelten Unterschriften für eine entsprechende Postautoverbindung von und nach Tecknau. Diese wurde dann auch eingeführt, es sollte aber noch bis 1946 dauern.

Eine Einladung 1949 von Schwester und Schwager nach Lausen und der Besuch eines Jodlerabends verursachten heftiges Herzklopfen beim jungen Dähler. Eine junge Dame gefiel ihm ganz besonders. Wie es der Zufall – oder das Schicksal – wollte, verliess die junge Frau namens Elisabeth Gerber das Fest zur gleichen Zeit und man hatte denselben Heimweg. «Da sagte ich: ‹Uf Wiiderluege!›»

Zum Glück kannte die Schwester einige Arbeitskolleginnen der jungen Dame, die bei Kleider Frey arbeitete. Und so gingen alsbald Grüsse hin und her. Ein gemeinsamer Besuch der Mustermesse in Basel konnte eingefädelt werden, und dann war der Fall klar. Am 1. Juli 1950 läuteten in der Oltinger Kirche die Hochzeitsglocken. Dem Paar wurden in den folgenden Jahren zwei Töchter und ein Sohn geschenkt.

Der Beruf führte Hans Dähler nach einigen Jahren zurück in den Lehrbetrieb, wo er bis 1967 blieb. Danach arbeitete er bis zur Pensionierung als Magaziner bei der Elektra.

Vom Vogelschutz zur Politik
Fehlt noch der wichtige Blick auf das politische Engagement Dählers. «Angefangen hat es zu Beginn der 1960er-Jahre mit dem Bedürfnis, etwas für den Vogelschutz zu unternehmen», sagt er rückblickend. «Weil diesbezüglich schon seit geraumer Zeit nichts mehr unternommen worden war.» Eine Versammlung wurde einberufen und der Verein «Arbeitsgemeinschaft für Natur und Heimat Oltingen» gegründet mit Hans Dähler als Präsidenten.

Später wurde er in die Schulpflege gewählt und dort in der Folge auch zu deren Präsidenten. In dieser Funktion stellte er unter anderem den Antrag für eine Zentralheizung im Schulhaus. Dieses Ansinnen stiess nicht überall auf Zustimmung, doch 1969 ging die Ära der einzelnen Holzöfen in den Schulzimmern zu Ende. Als Schulpflegepräsident oblag ihm auch die emotionale Aufgabe, seine beiden ehemaligen Lehrer in den Ruhestand zu verabschieden, erinnert sich der Senior.

Nach der Schulpflege folgte die Wahl in den Gemeinderat und vier Jahre später, 1976, machten ihn die Oltinger zu ihrem Präsidenten. Neben dem grossen dreitägigen Dorffest fiel in jenes Jahr auch die Planung der neuen Mehrzweckhalle. Keine leichte Aufgabe, wie sich zeigen sollte: Nachdem man sich mit Einbezug des kantonalen Heimatschutzes auf eine Projektvariante geeinigt hatte und 1977 mit der Realisierung begann, rutschte der Baugrund ab.

Nervenaufreibende Verhandlungen folgten. Da sich die Gemeinde auf Druck des Kantons für den gewählten Standort entschieden hatte, übernahm der Kanton unter Regierungsrat Nyffeler den grössten Teil der Mehrkosten. Der Bau konnte fertiggestellt und die neue Mehrzweckhalle im Jahr 1979 mit einem grossen Fest eingeweiht werden. Ein paar «Risse» quer durch die Dorfbevölkerung hielten noch etwas länger an. «Das war keine einfache Sache, die schon etwas ans ‹Läbige› gegangen ist», sagt Dähler und atmet tief durch.

In die 17-jährige Amtszeit von Dähler fiel 1982 auch das 150-Jahre-Jubiläum des Kantons Baselland. Oltingen, Wenslingen und Anwil beschlossen, eine gemeinsame Feier durchzuführen. An das Fest vom 12. September 1982 auf der Schafmatt erinnert sich Dähler gerne. Ebenso an die Erstellung und Enthüllung eines Denkmals zu Ehren von Bauerndichter Hans Gysin, genannt «Metzger Hans» (1882–1969). Die Regierung hatte sich anlässlich des bevorstehenden Jubiläums Ideen und Initiativen der Gemeinde gewünscht, daraufhin hatte Dähler den Gedenkstein vorgeschlagen. Dieser steht seither neben dem Eingang zur Mehrzweckhalle.

Freude herrscht!
Als krönenden Höhepunkt seiner Amtszeit bezeichnet Dähler ein Ereignis vom Juni 1989. Bei sommerlichem Prachtswetter trafen hohe Gäste aus Bern ein, bis Anwil per Car, ab dort per Pferdekutsche: Bundesrat Adolf Ogi und alt Bundesrat Leon Schlumpf. Begleitet wurden sie von eidgenössischen und kantonalen SVP-Spitzen, darunter SVP-Präsident und Ständerat Hans Uhlmann sowie Fraktionspräsident Hans-Rudolf Nebiker. Dähler erinnert sich noch ganz genau, dass es bei der Feier im Kilchhof Beinschinken und Kartoffelsalat gab und das Essen von der Frauenriege in der Baselbieter Werktagstracht serviert wurde, begleitet vom gemischten Chor mit dem Lied «Mis Dörfli».

Dähler war schon immer zur Stelle gewesen, wenn Not am Mann war. «Ich bin einfach verurteilt worden», sagt Dähler dazu, wohl nicht ganz ernst gemeint. Auch nach seinem Rücktritt als Gemeindepräsident übernahm er nochmals ein offizielles Amt. Als es darum ging, die Interessen der Gemeinde Oltingen im neu zu gründenden «Altersheim-Verein Ergolz Ormalingen» zu vertreten, bat man ihn, in diesem Gremium mitzuwirken. Nein sagen wollte er nicht, und so fand Dähler sich alsbald sogar als Gründungspräsident wieder. Mittlerweile heisst der Verein «Gönnerverein Zentrum Ergolz». «Ich war in Ormalingen dabei beim Spatenstich des Altersheims, bei der Aufrichte und bei der Einweihung, die am 9. Juni 1995 stattfand.» Seine Frau verbrachte ihr letztes Lebensjahr im «Ergolz», bevor sie Anfang 2014 verstarb.

«Hans, jetzt musst du weitermachen», hiess es auch schon früher und an ganz anderer Stelle. Besagten Satz sprach 1951 sein Götti, der Dorfcoiffeur, zu ihm. Dieser sah sich altershalber gezwungen aufzuhören und suchte einen Nachfolger. Der junge Dähler war schon damals keiner, der Nein zu Herausforderungen sagte. Und so wurde er nach einer kurzen «Schnupperlehre» der neue Oltinger Dorfcoiffeur, der den Leuten nach Feierabend die Haare schnitt und Männern die Bartstoppeln rasierte. Diese Nebentätigkeit führte er für sage und schreibe 25 Jahre aus. «Dabei habe ich natürlich sehr viel aufgeschnappt», bekennt Dähler, aber er habe nie Gebrauch davon gemacht, sondern diese Dinge immer für sich behalten.

Schere und Sägeblatt
Die Liste mit Aufgaben und Ereignissen aus Dählers Leben ist hier noch lange nicht zu Ende. Da wäre noch die Geschichte, wie er sich für den Erhalt der alten, 1825 in Betrieb genommenen Oltinger Sägerei einsetzte und 1988 mithalf, die «Stiftung Sagi Oltingen» ins Leben zu rufen. Und dann auch mutig genug war, als «Sager» für Vorführungen zu amten. Wer mehr zu diesem Kapitel wissen möchte, dem sei die Schrift «Die Sägemühle Oltingen» empfohlen.

Wie lange die am Anfang des Beitrags erwähnte Gemeindesprechstation in Betrieb war, entzieht sich unserem Wissen. Längst sind die modernen Zeiten auch in Oltingen angebrochen. Heutzutage kann sich, wer das möchte, die aktuellen Nachrichten aus der Gemeinde per Whatsapp zusenden lassen, wie auf der Gemeindeseite zu lesen ist.

Dähler, nach wie vor an der Hauptstrasse 24 zu Hause, muss und will nicht mehr alles wissen, erst recht nicht all die negativen Nachrichten, weder zu Banken in der Schweiz noch zu weltweit herrschenden Kriegen. Der Senior unternimmt lieber gemütliche Spaziergänge durch Oltingen und erledigt seine Einkäufe im Dorfladen. «Man darf zufrieden sein, wenn man das noch jeden Tag machen kann.» Und – so Gott will – darf Dorfchronist Hans Dähler am 9. Juni bei beneidenswerter Gesundheit seinen 99. Geburtstag feiern.

Nach der Pensionierung in die Coiffeurlehre

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