Tobias Fankhauser nimmt an erster Behindertensession teil

Ein Fünftel der Schweizer lebt mit einer Behinderung. Diese grosse Bevölkerungsgruppe kann ihre Anliegen oft nur ungenügend in der Politik einbringen, weil sie dort untervertreten ist. Mit einer Behindertensession im Nationalrat wird nun auf die Problematik aufmerksam gemacht. Mit dabei ist der Hölsteiner Tobias Fankhauser.

Janis Erne

Am Freitag findet im Bundeshaus die erste Behindertensession der Schweiz statt. 44 der 200 Plätze im Nationalratssaal werden einen Nachmittag lang von Menschen mit Behinderungen eingenommen. Vorgesehen ist, dass die temporären Parlamentarierinnen und Parlamentarier unter der Leitung des höchsten Schweizers, Martin Candinas («Mitte»), eine Resolution zur politischen Teilhabe und zu den politischen Rechten verabschieden. Damit soll der Grundstein für eine angemessenere Vertretung von Menschen mit Behinderungen in der Politik gelegt werden. Heute sind sie deutlich unterrepräsentiert, wie verschiedene Erhebungen zeigen. Entsprechend schwierig ist es für sie, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Das zeigte sich jüngst, als das Bundesparlament den Teuerungsausgleich der IV- und AHV-Renten, für den sich Behindertenorganisationen eingesetzt hatten, versenkte.

Dass Menschen mit Behinderungen nun genau 44 von 200, also 22 Prozent der Nationalratssitze einnehmen werden, ist kein Zufall: Die 22 Prozent symbolisieren ihren Bevölkerungsanteil, wie die Fachorganisation Pro Infirmis, welche die Session aufgegleist hat, auf ihrer Website schreibt. Demnach leben rund 1,8 Millionen Schweizerinnen und Schweizer mit einer Behinderung.

Pro Infirmis betont, dass es verschiedene Arten und Schweregrade gibt. Gemeinsam sei den Betroffenen, dass ihre Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben eingeschränkt sei. Darum will die Fachorganisation mit der Behindertensession aufzeigen, «dass es unterschiedlichste Menschen mit Behinderungen gibt, die kompetent und bereit sind, gewählt zu werden und ein politisches Amt anzutreten».

Ein Hölsteiner macht es vor
Ein Beispiel dafür ist Tobias Fankhauser. Der frühere, erfolgreiche Handbike-Profi aus Hölstein kandidierte jüngst erstmals für den Landrat und erzielte ein beachtliches Resultat: Nur knapp wurde der Grüne nicht erster Nachrückender in seinem Wahlkreis. Fankhauser, der seit einem Fahrradunfall vor 20 Jahren querschnittgelähmt ist, gehört zu den 44 Parlamentariern, die an der Behindertensession teilnehmen dürfen. Der Oberbaselbieter schaffte die Online-Wahl, nachdem er von seiner Parteikollegin Maya Graf ermuntert worden sei, mitzumachen, wie er im Gespräch erzählt. Die Ständerätin aus Sissach ist Co-Präsidentin von «Inclusion Handicap», des Dachverbands der Schweizer Behindertenorganisationen.

Vom Nachmittag im Nationalrat erhofft sich der 33-jährige Fankhauser vor allem zwei Dinge: Mehr Sichtbarkeit der Probleme von Menschen mit Behinderungen, und dass die Session nicht einmalig bleibt, sondern der Startschuss für eine regelmässige Durchführung sein wird. Der Hölsteiner blickt dem Anlass aber auch ein wenig kritisch entgegen: Er hätte es begrüsst, wenn im Vorfeld zusätzlich zur politischen Teilhabe auch andere thematische Schwerpunkte gesetzt worden wären.

Denn obwohl Fankhauser das Unverständnis blinder Kollegen teilt, die nicht selbstständig abstimmen und wählen können, findet er, dass es zusätzliche Wege gibt, um diese Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Er denkt dabei an etwas, das für die meisten Menschen selbstverständlich ist, nicht aber für Menschen mit Behinderungen: die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie an Sportanlässen. In seiner Funktion als OK-Mitglied der «Rad- und Para-Cycling-Strassen-WM Zürich 2024» setzt sich der Betriebsökonom genau dafür ein: für mehr Inklusion. «Zum ersten Mal werden alle Athleten – egal, ob mit oder ohne Behinderung – ihre Wettkämpfe am gleichen Event bestreiten, und nicht zeitlich versetzt, wie es etwa bei Olympia der Fall ist», erklärt Fankhauser, selbst Paralympics-Medaillengewinner von Rio und London.

«Entscheidender Multiplikator»
Dass die Behindertensession mit dem Fokus auf die politische Teilhabe inhaltlich eingeengt ist, weiss Organisatorin Pro Infirmis. Auf ihrer Website heisst es: «Diese Thematik umschliesst bei Weitem nicht alle politischen Probleme für Menschen mit Behinderungen.» Doch sie ziele darauf ab, diese in Zukunft gemeinsam lösen zu können. Politische Teilhabe sei der entscheidende Multiplikator für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, wird Simone Leuenberger, Grossrätin des Kantons Bern, zitiert: «Wenn Menschen mit Behinderungen als Wählende sowie als Gewählte hindernisfrei in der Politik bei allen Themen mitreden, wird ‹nichts über oder ohne uns› Realität und wir können die Gesellschaft bewegen.»

Bis es so weit ist, bleibt punkto Gleichstellung aber noch einiges zu tun. Die Behindertensession soll mit ihrer Resolution einen Schritt in die richtige Richtung sein. Die Resolution ist von einer Kommission – bestehend aus sieben Politikerinnen und Politikern mit Behinderungen – vorbereitet worden. Mit dabei waren etwa ein Tessiner Regierungsrat, ein Thurgauer Nationalrat und eine Gemeinderätin der Stadt Lausanne. An der Session können die 44 «Kurzzeit-Nationalräte» Änderungsanträge stellen.

So auch Tobias Fankhauser. Er hofft, dass die Resolution am Schluss «schärfer» formuliert sein wird als jetzt. Wie die 43 anderen «sehr engagierten» Parlamentarier will auch er sich einbringen in der Debatte. Der Oberbaselbieter hat guten Grund dazu: Dank seiner Landratskandidatur weiss der Politinteressierte, mit welchen Hindernissen Menschen mit Behinderungen bei Wahlen zu kämpfen haben. Als Rollstuhlfahrer habe er etwa beim Plakateaufhängen kaum mithelfen können, erzählt Fankhauser. Zudem seien die Sitzungsorte oft nicht barrierefrei und er somit auf Hilfe angewiesen gewesen. Und bei einer gemeinsamen Wanderung der Kandidierenden habe er vorab die Rollstuhlgängigkeit geprüft und einen elektrischen Hilfsantrieb mitgebracht.

Obwohl Fankhauser keinen allzu aufwendigen Wahlkampf betrieben hat, wie er selbst sagt, zeigen seine Ausführungen: Menschen mit Behinderungen müssen ihre Aktivitäten oft gründlich vorbereiten, was zuweilen einiges an Zeit beansprucht. Hinzu kommt, dass sie nicht selten auf Unterstützung angewiesen sind.

Fankhauser ist dennoch überzeugt, dass auch Menschen mit Behinderungen gute Politiker sein können. Für eine angemessenere Vertretung in den politischen Gremien sieht er, der entsprechenden Quoten eher ablehnend gegenübersteht, sowohl die Betroffenen als auch die Parteien in der Pflicht: «Es wäre wünschenswert, wenn sich mehr Menschen mit Behinderungen als Kandidierende zur Verfügung stellen würden und weitere Parteien den Mut hätten, ihnen auch einmal einen Spitzenplatz auf der Wahlliste zu geben.»

Die Behindertensession findet morgen Freitag von 13.30 bis 17.00 Uhr statt. Sie kann im barrierefreien Livestream mit Untertiteln und Gebärdensprache mitverfolgt werden. Anmeldung unter: www.proinfirmis.ch/politik/ behindertensession

Darum wird von der «Behindertensession» gesprochen

je. Das Wort «behindert» wird gemeinhin als diskriminierend verstanden, und teils sogar als Schimpfwort genutzt. Dennoch bezeichnet die vorbereitende Kommission die anstehende Debatte im Nationalrat bewusst als «Behindertensession». Warum? Die Bezeichnung sei von Menschen mit Behinderungen selbst so gewählt worden, heisst es von der Organisatorin Pro Infirmis. Die Bezeichnung gehe von einer gesetzlichen und sprachlichen Realität aus: So gebe es etwa das «Behindertengleichstellungsgesetz» oder die «Behindertenrechtskonvention».
Eine mögliche Verwirrung oder Provokation durch den Begriff «Behinderte» werde absichtlich in Kauf genommen, so Pro Infirmis weiter. Denn die Provokation entstehe nur, solange das Thema negativ behaftet sei oder tabuisiert werde: «Nur wenn Themen beim Namen genannt werden, können sie auch angegangen werden.» Es sei wichtig, dass Menschen mit Behinderungen als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden.

«Auch wir können gute Politiker sein»

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title