AUSGEFRAGT | LUCAS WERDER, JOURNALIST
02.12.2022 Fussball, Gesellschaft, Sport«Katar kann Kritik nicht nachvollziehen»
Zurzeit steigt im Wüstenstaat Katar die 22. Ausgabe der Fussball-Weltmeisterschaft, die in vielerlei Hinsicht umstritten ist. Lucas Werder berichtet als Journalist für «20 Minuten»vor Ort und erzählt über die Gegebenheiten im ...
«Katar kann Kritik nicht nachvollziehen»
Zurzeit steigt im Wüstenstaat Katar die 22. Ausgabe der Fussball-Weltmeisterschaft, die in vielerlei Hinsicht umstritten ist. Lucas Werder berichtet als Journalist für «20 Minuten»vor Ort und erzählt über die Gegebenheiten im Gastgeberland.
Boas Tschopp
Herr Werder, Sie sind als Journalist bei der Fussball-Weltmeisterschaft. Ist Ihre Einreise reibungslos verlaufen und welche Vorkehrungen mussten Sie im Voraus treffen?
Lucas Werder: Im Voraus musste eine sogenannte «Hayya Card» beantragt werden, ein spezielles Visum für die Weltmeisterschaft. Zudem musste eine Liste mit dem mitgebrachten Equipment (Mikrofon, Kamera und so weiter) den Behörden vorgeführt werden. Bei der Einreise wurde mir das Gepäck und mein Reisepass abgenommen und ich wurde während rund zehn Minuten in einem Hinterzimmer kontrolliert. Es war jedoch alles in Ordnung und ich erhielt meine Utensilien zurück.
Was sind Ihre Aufgaben während Ihres Aufenthalts in Katar und wie ist Ihr Tagesablauf?
Ich stehe um circa 10 Uhr auf. Danach begebe ich mich zum Training der Schweizer Nationalmannschaft, wo sich jeweils ein bis zwei Spieler zur Verfügung stellen, um Fragen zu beantworten. Anschliessend sehe ich mir zwei Partien pro Tag an, wobei ich für die Berichterstattung der Spiele und aktuelle Geschichten der Weltmeisterschaft zuständig bin. Zwischen 2 und 3 Uhr nachts bin ich jeweils zurück im Hotel.
Die WM wurde aufgrund der klimatischen Bedingungen in den Winter verlegt. Sind die Temperaturen nun fussballfreundlich?
Tagsüber ist es noch immer sehr warm, die Temperaturen liegen bei über 30 Grad Celsius. Abends herrschen noch rund 22 Grad Celsius. Die Stadien werden stark klimatisiert, sodass die Temperaturen für die Spieler und Zuschauer angenehm sind. Einzig das «Stadion 974» im Osten Katars wird nicht klimatisiert.
Waren Sie bei der Eröffnungszeremonie anwesend und wie haben Sie diese empfunden?
Da ich in den ersten Tagen mit dem Verkehr noch nicht ganz vertraut war, traf ich verspätet im Stadion ein. Die Zeremonie war durchaus etwas skurril, jedoch finde ich diese Eröffnungsfeiern immer speziell.
Gemäss den Medien verliessen viele Fans das Stadion beim Eröffnungsspiel bereits nach 60 Minuten. Wie haben Sie dies wahrgenommen?
Das war durchaus der Fall. Beim Eröffnungsspiel waren vermutlich am meisten Einheimische vor Ort. Einige verliessen das Stadion bei Halbzeit, als der Gastgeber mit 0:2 zurücklag. Im Verlauf der zweiten Halbzeit wurden es noch mehr, sodass grosse Lücken auf den Rängen entstanden.
Die Organisatoren bezeichnen Katar als «fussballverrücktes» Land. Ist ausserhalb der Stadien eine WM-Atmosphäre zu spüren?
In Katar leben viele Arbeitskräfte aus den unterschiedlichsten Ländern, die sich teilweise sehr für den Fussball interessieren. Als ich in einem Restaurant zu Abend ass, sprach ich mit einem Kellner aus Uganda, der sogar Fussballer aus der Schweizer Super League kannte. Die Begeisterung der Einheimischen hält sich jedoch in Grenzen. Die wohlhabenden Kataris zeigten sich in den vergangenen Tagen genervt, aufgrund der Kritik der westlichen Welt bezüglich des Alkoholverbots in den Stadien und der Haltung des Staates gegenüber homosexuellen Menschen. Die Kritik ist für sie nicht nachvollziehbar. Die Kataris sehen sich eher als Wohltäter, da sie durch den Ausbau der Infrastruktur zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen und einen Mindestlohn für ausländische Arbeitskräfte festgelegt haben.
Wie empfinden Sie die Atmosphäre in den Stadien?
Die Stimmung ist je nach Spiel unterschiedlich. Ich glaube, dass ich noch nie Fans gehört habe, die lauter waren als diejenigen der Marokkaner beim Spiel gegen Belgien. Auch die Südamerikaner und Mexikaner sorgen für eine WM-würdige Atmosphäre. Bei gewissen Spielen herrscht jedoch kaum Stimmung und die Stadien sind nicht ausverkauft. Es kommt gar vor, dass Menschen ohne Ticket in der Halbzeit ins Stadion gelassen werden, damit die leeren Ränge nicht herausstechen. Es fällt durchaus auf, dass die Fans aus Europa vergleichsweise zurückhaltender sind. Beispielsweise beim Spiel zwischen der Schweiz und Kamerun, da herrschte zeitweise «tote Hose».
Wie viele Spiele haben Sie bisher gesehen und wie reisen Sie in Katar herum?
Wie bereits erwähnt, kann ich mich täglich für zwei Spiele anmelden. Es gibt ein grosses Medienzentrum, wovon Busse unmittelbar vor die jeweiligen Stadien fahren. Die Organisation ist einwandfrei. Da Katar im Rahmen der Weltmeisterschaft viel Geld in den Bau von Strassen und einer Metro investiert hat, ist der Verkehr sehr gut geregelt und es kommt, trotz der geringen Distanzen zwischen den Stadien, nur selten zu Verkehrsüberlastungen.
Die Pressefreiheit in Katar ist stark eingeschränkt, diverse Bereiche dürfen nicht gefilmt oder fotografiert werden. Hatten Sie dementsprechende Erlebnisse?
Ich habe eine Woche vor meinem Aufenthalt eine Liste erhalten mit den Bereichen, die nicht gefilmt oder fotografiert werden dürfen. Somit kam ich deswegen nie in eine Konfliktsituation.
Sie haben nun bereits einige Spiele live verfolgt. Welches Nationalteam hat Sie bisher am meisten überzeugt?
Frankreich hat mich in den ersten beiden Partien sehr überzeugt. Auch Spanien und Brasilien spielen einen guten Fussball, wobei man die Absenz von Neymar bei den Brasilianern durchaus spürt. Deutschland darf man nicht unterschätzen, sie spielen besser, als es die bisherigen Resultate vermuten lassen.
Wie sind Sie mit der bisherigen Leistung der Schweizer Nati zufrieden und was erwarten Sie vom Spiel gegen Serbien?
Die Schweiz hat bisher einen soliden Eindruck gemacht, wobei sie im Angriff durchaus noch mutiger agieren kann. Die Serben verfügen offensiv über ein enormes Potenzial, wobei sie defensiv verwundbar sind. Ich denke, dass es für die Schweiz wichtig ist, nicht in Rückstand zu geraten.
Zur Person
bt. Lucas Werder arbeitet seit Januar 2021 als Sportredaktor bei «20 Minuten». 2019 schloss er sein Studium in Journalismus und Organisationskommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft ab. Zudem war der 30-Jährige, der in Bubendorf aufwuchs, während vier Jahren als freier Mitarbeiter für die «Volksstimme» tätig.