«Wir finden nicht aus dem Krisenmodus»
28.12.2022 OrmalingenMiriam Behrens, Direktorin Schweizerische Flüchtlingshilfe, erlebt hektische Zeiten
Miriam Behrens aus Ormalingen ist Direktorin der Flüchtlingshilfe. Sie spricht über ihre herausfordernde Arbeit, die grosse Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten im vergangenen ...
Miriam Behrens, Direktorin Schweizerische Flüchtlingshilfe, erlebt hektische Zeiten
Miriam Behrens aus Ormalingen ist Direktorin der Flüchtlingshilfe. Sie spricht über ihre herausfordernde Arbeit, die grosse Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten im vergangenen Jahr und die Betreuung von Gastfamilien, die Ungleichbehandlung von Geflüchteten und was der Krieg und die Schicksale der Betroffenen für sie persönlich bedeuten.
Sander van Riemsdijk
Frau Behrens, wenn Sie auf Ende Februar zurückblicken, als der Krieg in der Ukraine seinen Anfang nahm, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Miriam Behrens: Es ist natürlich vom Ausmass und von den Auswirkungen her, welche die Fluchtbewegung auf die Schweiz hat, in einer Grössenordnung, die wir schon lange nicht mehr hatten. Insbesondere die ersten zwei Monate mit der Einführung des Schutzstatus S und mit dem neuen Gastfamilienprojekt waren sehr intensiv. Es gab sehr viele Prozesse und Herangehensweisen mit engen Kommunikationswegen, die mit allen institutionellen Akteuren auf Gemeinde-, Kantonsund Bundesebene abgesprochen werden mussten. Ein grosser Vorteil war, dass der bestehende Krisenstab «Corona im Asylbereich» in der gleichen Besetzung für die Ukraine eingesetzt werden konnte. Aufgrund der vielen Unsicherheiten war es für alle eine unglaubliche Herausforderung. Mein Arbeitspensum in den ersten zwei Monaten hatte sich schlagartig verdoppelt.
Wie stark war die Schweizerische Flüchtlingshilfe dieses Jahr gefordert?
Wir werden seit drei Jahren stark gefordert und kommen nicht aus dem Krisenmodus heraus. Zuerst das Coronavirus mit seinen Auswirkungen auf das Asylwesen, die gerne unterschätzt wurden. Dann sind die Fluchtrouten wegen Lockdowns unterbrochen worden und die Geflüchteten, die unterwegs waren, blieben irgendwo stecken. In den Kollektivunterkünften in der Schweiz entstand ein Platzproblem, weil pandemiebedingt Mindestabstände eingehalten und folglich zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten mit den nötigen Hygienemassnahmen gesucht werden mussten. Dies war insbesondere für Bund und Kantone eine Herausforderung. Dann kam der Krieg in Afghanistan, die Klimaflucht nimmt zu und in diesem Jahr haben wir nicht nur ukrainische Kriegsgeflüchtete, sondern auch eine Zunahme von Geflüchteten auf den bekannten Fluchtrouten. Das Asylsystem ist stark gefordert. Die Notfallorganisation im Asylsystem musste aktiviert werden.
Der Krieg in der Ukraine hat die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Wie geht die Schweiz mit den Auswirkungen dieses Krieges um?
Im Grundsatz kann man der Schweiz eine gute Note geben. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir bis Ende Jahr 100 000 Flüchtlinge aufnehmen werden, davon 70 000 aus der Ukraine. Im letzten Jahr hatten wir zum Vergleich insgesamt 18 000 Flüchtlinge. Trotz der grössten Herausforderungen war die Schweiz imstande, diese grosse Anzahl von Schutzsuchenden zu absorbieren. Jede geflüchtete Person hat eine Unterkunft und Verpflegung. Unser im Vergleich zu anderen Ländern viel effizienteres Asylsystem mit den schnellen Verfahren hat sich als robust erwiesen.
Die Schweiz wird nicht erst seit dem Ukraine-Krieg mit einer herausfordernden Flüchtlingspolitik konfrontiert. Was ist bei diesem Krieg anders als bei anderen Kriegen?
Es gibt zwei verschiedene Wahrnehmungen. Zuerst die Wahrnehmung der Bevölkerung. Die Hilfsbereitschaft ist riesig bei den Ukraine-Geflüchteten. Dies, weil dieser Krieg ein etwas anderer ist als bisherige Kriege. Dieser Krieg ist in Europa und dadurch näher, wir sind mehr betroffen, und er wird vor allem als Bedrohung für unsere Demokratie empfunden. Der Syrienkrieg zum Beispiel ist im Empfinden weit weg von uns. Der Ukraine-Krieg ist kein Bürgerkrieg wie in Syrien oder in Afghanistan, sondern ein Angriffskrieg. Da gibt es einen Täter und ein Opfer, dem geholfen werden muss. Der Umgang mit den Schutzbedürftigen mit dem Status S ist anders als mit Geflüchteten, die an der Grenze stehen. Aussergewöhnlich ist zudem, dass Gastfamilien erstmals stark einbezogen worden sind und die Zivilbevölkerung damit einen bedeutenden Beitrag an die Unterbringung der Kriegsgeflüchteten leisten kann. In der Schweiz war im Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine vieles neu.
Ihre Organisation hat das Gastfamilienprojekt lanciert. Wie schnell konnte dies anlaufen?
In der Syrien-Krise haben wir bereits die Idee der Gastfamilien auf nationaler Ebene lanciert. Man konnte dort schon gewisse Projekterfahrungen sammeln. Wir wurden dann auch am Anfang der Ukraine-Krise angefragt, ob wir Gastfamilien direkt vermitteln könnten. Ich habe innert eines halben Tages entscheiden müssen, ob wir dies machen. Es war uns klar, dass es in diesem überraschenden Ausmass ein sehr grosses Projekt sein wird und wir dies nicht allein bewältigen können. Wir sind ein Dachverband und haben sofort alle Flüchtlingshilfswerke angefragt, ob sie mitmachen, und den Kontakt zum Verein Campax gesucht, der bereits Gastfamilienadressen sammelte. Alle waren sofort bereit, einen Beitrag zu leisten, und es war ebenso allen klar, dass ein unkonventionelles und schnelles Handeln gefordert war.
Wie sind Sie bei der Prüfung von Gastfamilien vorgegangen?
In dieser Dimension – es wurden 60 000 Betten angeboten – und in diesem Tempo war es logistisch nicht möglich, die einzelnen Gastfamilien vor der Platzierung zu besuchen. Unsere Eingabemaske war daher sehr detailliert, wir haben gewusst, worauf wir achten müssen. Wir haben nur Gastfamilien und Geflüchtete vermittelt, denen man ein solch spezielles Zusammenleben auch zumuten kann. Ebenso haben wir einen Strafregisterauszug eingefordert. Nach einer Platzierung haben unsere kantonalen Hilfswerke dann sehr zeitnah die Gastfamilien für die Betreuung besucht. Die ersten Auswertungen sind durchwegs positiv. Im Kanton Baselland ist man gleichzeitig sehr bemüht, die Geflüchteten in eigenen Wohnungen unterzubringen.
Die Solidaritätswelle in der Bevölkerung – mit Gastfamilien – war am Anfang des Kriegs riesig. Ist diese immer noch so gross, und was kann die Flüchtlingshilfe tun, damit diese Solidarität nicht (weiter) abnimmt?
Die Solidarität ist immer noch gross. Wenn man die bei den Gastfamilien erhalten will, muss man diese begleiten und finanziell entschädigen. Sonst erreicht man die längerfristige Solidarität nie. Sehr wichtig ist, dass man ihren Einsatz wertschätzen und stärken soll. Diese Familien leisten einen enormen Beitrag, denn sie beherbergen doch immerhin rund 30 000 Ukrainerinnen und Ukrainer. Der grosse Rest lebt in Privatwohnungen und sogenannten Kollektivstrukturen wie Turnhallen oder Zivilschutzanlagen. Auch hier ist es wichtig, die Solidarität weiterhin zu pflegen.
Mit dem Status S für die ukrainischen Geflüchteten ist der Vorwurf verbunden, dass die Schweiz damit im Flüchtlingswesen eine Zweiklassengesellschaft schafft.
Dies stimmt zwar, aber wir kämpfen dagegen. Man kann den Status S mit dem Status der vorläufigen Aufnahme vergleichen, den die meisten Kriegsgeflüchteten in der Schweiz erhalten. Um Asyl zu bekommen, muss man hingegen eine individuelle Verfolgung nachweisen können. Bei einem Krieg ist dies oft nicht möglich. Kriegsgeflüchtete erhalten daher meist kein Asyl, sondern eine vorläufige Aufnahme. Vorläufig Aufgenommenen ist es grundsätzlich verboten, ins Ausland zu reisen. Sie können etwa ihre Verwandten in Deutschland oder Frankreich nicht besuchen. Zudem bestehen eine dreijährige Wartefrist und weitere Hürden für den Familiennachzug. Der Status S wurde erstmals speziell für Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine angewendet. Diese können sich dank Reisefreiheit frei in Europa bewegen, haben Zugang zum Arbeitsmarkt und können sofort ihre Familien nachziehen. Man hat also unterschiedliche Statusrechte für eine ähnliche Ausgangslage. Das ist eigentlich nicht okay. Die SFH hat bei den zuständigen Behörden entsprechend interveniert und wird das Thema auch bei der neuen Bundesrätin Baume-Schneider einbringen.
Wie schätzen Sie momentan die Situation in der Ukraine ein? Müssen wir mit einer zweiten grossen Fluchtbewegung rechnen?
Nein, mit einer zweiten grossen Bewegung ist derzeit nicht zu rechnen. Am Anfang war die Befürchtung wegen des bevorstehenden Winters gross. Im Moment spürt man dies nicht. Wir stellen zudem Bewegungen in zwei Richtungen fest. Es gehen auch wieder Geflüchtete zurück in die Ukraine. Die Dynamik hängt stark von der weiteren Entwicklung des Kriegs ab.
In Deutschland wehren sich viele Kommunen gegen die weitere Aufnahme von Geflüchteten, weil keine Unterkünfte mehr zur Verfügung stehen. Kann die Schweiz noch mehr Schutzsuchende aufnehmen oder ist «das Boot voll»?
Nein, voll ist es, glaube ich, nicht. Auf verschiedenen Ebenen ist es bis jetzt immer gelungen, zusätzliche Plätze zu aktivieren. Es hat sowohl auf Bundes- als auf Kantonsebene immer noch freie Kapazitäten und man kann noch mehr auf das Militär zurückgreifen. Es ist und bleibt jedoch sehr herausfordernd.
Sie werden tagtäglich in Ihrer Arbeit mit Menschen in Not konfrontiert. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Wenn man direkt mit den Schicksalen von Geflüchteten konfrontiert wird, hat man eine andere Sicht auf die Problematik. Man erlebt die Schicksale direkt und setzt sich eher damit auseinander, dass man auch selbst betroffen sein könnte und in dem Fall froh um Hilfe wäre. Was mich daher am meisten zermürbt, sind gewisse politische Positionen, die sich von jeder Menschlichkeit entfernt haben.
Zur Person
svr. Miriam Behrens ist 57 Jahre alt, lebt im Konkubinat und hat zwei Söhne im Alter von 21 und 23 Jahren. Geboren ist sie in Deutschland, aufgewachsen ist sie jedoch an verschiedenen Orten im Baselbiet. Sie pendelt durchschnittlich zwei Mal in der Woche zwischen Bern, dem Sitz der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, und ihrem Wohnort Ormalingen. Von Oktober 2010 bis März 2016 war sie Generalsekretärin der Grünen Partei der Schweiz, wo sie sich in ihrer Funktion auch mit der Migrations- und Flüchtlingspolitik befasst hat. Vorher hat sie neun Jahre als Projektleiterin Politik und Internationales bei Pro Natura gewirkt. Ihr grösstes Hobby ist ihr Garten und der Bauernhof mit den Obstbäumen und Tieren.
Schweizerische Flüchtlingshilfe
svr. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Bern und einer Aussenstelle in Lausanne. Ihre Aufgaben als konfessionell neutral und politisch unabhängig organisierter Verein sind vielseitig. Darunter sind die Einforderung der Rechte und die Stärkung der Geflüchteten in der Politik, bei den Behörden und gegenüber Verbänden, die Sensibilisierung für ihre Lebensumstände in der breiten Öffentlichkeit und das Anstossen von Innovationen im Bereich Flucht und Asyl.