«Auf der Fähri sind alle Menschen gleich wichtig»
30.12.2022 Basel, RegionHerr Wirz, kann man den Beruf «Fährimaa» lernen?
Rémy Wirz: Nein. Man muss eine Prüfung ablegen, vergleichbar einer Autoprüfung. Theorie muss man für sich alleine büffeln, und die praktische Prüfung erfolgt bei der Rheinpolizei. ...
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Abo AngeboteHerr Wirz, kann man den Beruf «Fährimaa» lernen?
Rémy Wirz: Nein. Man muss eine Prüfung ablegen, vergleichbar einer Autoprüfung. Theorie muss man für sich alleine büffeln, und die praktische Prüfung erfolgt bei der Rheinpolizei.
Wir sprechen also eher von einer Berufung?
Genau. Das Handwerk erlernst du auf einer Fähre. Mit Walter Zimmerli, dem Vater des jetzigen Klingental-Fährmann (der Ende 2022 vom Stiftungsrat auch in Pension geschickt wird) hatte ich einen ausgezeichneten «Lehrmeister».
Wie werden Sie entlöhnt?
Einen fixen Lohn gibt es nicht. Der Lohn ist das, was abends in der Kasse bleibt. Auf der «Ueli-Fähre» ist dies kein Geschäft. Aber das Geldverdienen steht für mich auch nicht im Vordergrund, sondern mein Dienst an den Fähripassagieren und der Stadt.
Ist «Fährimaa» Ihr Traumberuf – im Vergleich zu dem, was Sie vorher gemacht haben?
Definitiv! Keine Arbeit, die ich je gemacht habe, kommt an den «Fährimaa» heran. Jetzt sind es 18½ Jahre, und ich liebe meinen Beruf noch immer.
Wie lange dauert die Überfahrt?
Je nachdem. Wenn mich jemand nervt (was selten vorkommt), dann fahre ich schneller. Im Extremfall kann ich in zwei Minuten drüben sein. Normalerweise fahre ich gemächlicher, dann benötigen wir 8 bis 10 Minuten.
Könnten Sie nach jahrelanger Erfahrung Ihre Gäste grob in verschiedene Kategorien unterteilen?
Da tue ich mich schwer damit … Trotzdem: Es sind zunächst die wenigen Touristen. Dann die Besucher (die in Basel jemanden besuchen), gefolgt von den Familien mit Kindern, die an diesem oder anderem Rheinufer wohnen, viertens die Stammkunden, will heissen meine Fährifreunde oder die Fährifans. Und fünftens die Lausbuben, ich nenne sie Quartiergangster.
Wie sicher ist der «Fährimaa»? Man könnte Sie ja auch bedrohen oder ausrauben …?
Ach, das kann mich nicht beeindrucken. Ich denke, da hilft mir mein Ruf, ein grundanständiger, megalieber Mensch zu sein, der aber auch gut mit brenzligen Situationen umgehen kann. Ich habe schon eine Massenschlägerei mit rund 30 Leuten gestoppt an einem 31. Juli. Ich denke, ich habe ein grosses Quantum an Zivilcourage – dafür habe ich grosse Probleme damit, die Post aus dem Briefkasten zu nehmen und zu öffnen.
Irgendwo haben wir gelesen, Sie könnten sich zuweilen ziemlich aufregen. Stimmt das? Wenn ja, worüber denn?
Das kann vorkommen. Zu Beginn des Corona-Lockdowns hat sich Christoph Blocher geäussert, man solle doch nicht so viel Rücksicht nehmen auf die Alten und die Kranken. Damals habe ich sein Verhalten als unmenschlich und zutiefst uneidgenössisch bezeichnet.
Bei «20 Minuten» hatten Sie einmal die Gelegenheit, frei von der Leber zu sprechen – unter dem Titel «Liebe Basler, liebe Schweizer». Worum ging es da?
Das war auch während Corona. Es ging um den Turbo-Hyper-Konsum-Kapitalismus. Es ist doch so: Früher hiess es «Cognito ergo sum – ich denke, also bin ich». In den 1960er-Jahren wurde dieser Spruch mit den Hippies und den Kuttlebutzer zu «Coito ergo sum». Und heute sind wir bei «Consumo ergo sum» – der Kaufsucht. Vor Jahren und Jahrzehnten war die Wirtschaft ein ganz wichtiger Teil der Gesellschaft. Heute hingegen ist die Gesellschaft ein immer unwichtigerer Teil der Wirtschaft. Das ist krank, ungesund und macht uns kaputt – den Planeten und die Menschen. Und wir Milliarden wunderbarer Wesen sind nicht fähig, damit aufzuhören und Gegensteuer zu geben. Auch, weil wir immer die anderen dafür verantwortlich machen. So zeigen wir zum Beispiel auf die Kapitalisten, obwohl es die Menschheit im Ganzen ist, die schuld ist.
«Verzell du das em Fährimaa …» Wissen Sie, woher diese Redewendung stammt?
Da gibt es ganz verschiedene Erklärungen und Geschichten. Eine ist: Fährimänner waren früher meist brotlose Künstler, und die Fähren wurden sogar vom damaligen Künstlerverein betrieben. Damals entstand auch das Bild des ständig alkoholisierten «Fährimaa» mit dem Stumpen im Mundwinkel. Ich denke, dieser Spruch kommt von da. Es könnte aber auch daher kommen, dass dem «Fährimaa» vieles erzählt wird, Dinge, die man loswerden möchte. Wichtig ist dabei nicht, dass sich der «Fährimaa» in Jahren noch daran erinnern mag, was jemand zu ihm sagt. Viel wichtiger ist, dass ein Mensch in dem betreffenden Moment jemanden hat, der ihm zuhört. Deshalb ist für mich Freundlichkeit so wichtig – Freundlichkeit als situative, momentane und bedingungslose Freundschaft.
Hat sich in den bald zwei Jahrzehnten etwas bei den Fahrgästen verändert?
Zu Beginn meiner Tätigkeit war etwa jeder dritte Fahrgast unzufrieden, hat über irgendwen geschimpft und gejammert. Heute sind es alles gute Leute, die die Fähre besteigen. Seit bekannt ist, dass ich aufhöre als «Fährimaa», kamen zahlreiche Leute zu mir, die mir sagten, sie seien immer nur wegen mir gekommen. Da hat sich in diesen Jahren eine fast innige Freundschaft entwickelt.
Und Sie, haben Sie sich verändert in diesen 18 ½ Jahren?
Sicher. Heute bin ich einfach nur glücklich und dankbar!
Wieso hören Sie Ende Jahr auf?
Mein Plan war es, die Pacht abzugeben an meinen besten Freund und Ablöser auf dieser Fähre, Stephan Weisskopf. Er war meiner Überzeugung nach der mit Abstand beste Kandidat. Er wollte es auch und ich hätte die Rolle als Ablöser übernehmen können. Das hätte mir, der Fähre und den Fahrgästen gutgetan. Leider hat der Stiftungsrat dies anders gesehen; er hat den Nachfolger sogar schon bestimmt, bevor mir gekündet wurde. Es ist zwar ein Freund von mir, den ich seinerzeit ausgebildet habe, der sich mit mir aber völlig überworfen hat. Er will mich auch nicht als Ablöser fahren lassen.
Das tut weh, oder?
Ja, extrem!
Sie legen also am 31. Dezember zur letzten Überfahrt ab?
Ja, danach packe ich meine Habseligkeiten zusammen und verlasse die Fähre. Es ist traurig, so aufzuhören. Ich glaube aber, für meinen Nachfolger ist die Situation ebenfalls schwierig. Dennoch wünsche ich ihm alles Gute und dass er sein Glück findet.
Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Ich werde mich mehr um meine Mutter kümmern, mit der ich zusammenlebe. Sie ist 89 Jahre alt und pflegebedürftig.
Gibt es eigentlich einen typischen «Fährimaa»-Spruch?
Es hat vermutlich jeder «Fährimaa» seine eigenen Sprüche. Bei mir ist es so: Wenn es einem Fahrgast gefallen hat und er sagt, er werde sicher wiederkommen, so entgegne ich zuweilen scherzhaft: «Ja, das habe ich befürchtet …»
Ueli-Fähre
rob. Das erste Gesuch für eine Fährverbindung vom unteren Kleinbasel zum St.-Johann-Quartier wird 1870 eingereicht. Ihr Zweck: Das von Deutschland importierte Vieh soll nicht mehr via Mittlere Rheinbrücke zum Schlachthaus geführt werden müssen. Doch erst 1895 kann die sogenannte Schlachthausfähre ihren Betrieb aufnehmen. Es sind die Industriebetriebe einerseits, die sich an beiden Rheinufern angesiedelt haben, und die Anwohner andererseits, die eine Fährverbindung gefordert haben, um einfacher an ihre Arbeitsplätze zu kommen. Doch bereits 1934 wird die Fähre wieder stillgelegt; die Einweihung der Dreirosenbrücke hat sie überflüssig gemacht.
Als das Gelände der alten Stadtgärtnerei und des Schlachthofareals im Zuge der Stadtentwicklung in den St.-Johanns-Park umgewandelt wird, erhält die Idee einer Fährverbindung neuen Auftrieb. 1989 ist es so weit: der Betrieb wird wieder aufgenommen, auch dank des tatkräftigen Engagements des Künstlers Jean Tinguely, dem absoluten Lieblingskünstler von Rémy Wirz.