Gesundsein und Gesundbleiben
23.08.2022 ZeglingenVortrag des renommierten Epidemiologen Marcel Tanner
Gesund sein heisst, sich körperlich, seelisch und sozial wohl zu fühlen – das bedeutet Lebensqualität. Wie dies erreicht werden kann, erläuterte Professor Dr. Marcel Tanner an einem Vortrag auf dem Hofgut ...
Vortrag des renommierten Epidemiologen Marcel Tanner
Gesund sein heisst, sich körperlich, seelisch und sozial wohl zu fühlen – das bedeutet Lebensqualität. Wie dies erreicht werden kann, erläuterte Professor Dr. Marcel Tanner an einem Vortrag auf dem Hofgut Mapprach.
Sander van Riemsdijk
Professor Dr. Marcel Tanner, Referent zum Thema «Gesundsein und Gesundbleiben» und wissenschaftlicher Weltenbummler, liess am Sonntagnachmittag im historischen Landschaftsgarten des Baselbieter Hofguts Mapprach in Zeglingen die etwa 40 Zuhörenden zuerst an seinen Baselbieter Wurzeln teilhaben. In den 1950er-Jahren hat er als Bub häufig seine Ferien bei den Grosseltern in Diegten verbracht. Es war für ihn eine prägende Zeit, mit einem früh verstorbenen Grossvater und einer Grossmutter, die enorm viel für das Miteinander, auch im Dorf, geleistet hat.
Dort hat er gelernt, was es bedeutet in einer Gemeinschaft zusammenzuleben und sich gegenseitig zu unterstützen. Fehlte etwas, bat der Grossvater den Nachbarn um Hilfe und umgekehrt. Gemeinsam konnte so vieles erreicht werden. Mit diesem Blick in den zeitlichen Rückspiegel startete Tanner auf Einladung des Vereins «Tusculum auf Mapprach» sein fast einstündiges Plädoyer für mehr gesellschaftliche Gemeinsamkeit, nicht nur in der Gesundheit. Gemeinsamkeit im Sinne von «es soll der Gesellschaft gut gehen und nicht nur mir».
«Bürdenmessung» ist wichtig
Bevor Tanner im Sinne der Betrachtung des Gesamtbilds, sprich der Public-Health-Perspektive, ausführlich auf die politischen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Aspekte in der Pandemie einschwenkte, erzählte er über seine Erfahrungen in der direkten Hilfe von Menschen vor Ort in Kamerun, Liberia und vor allem in Tansania, wo er mehrere Jahre mit seiner Familie lebte, forschte und vor allem auch wissenschaftliche Erkenntnisse direkt in Gesundheits- und Sozialprogrammen mit der Bevölkerung umsetzte.
Dort hat er erfahren, dass es prinzipiell wichtig ist, nahe zu den Menschen zu gehen, die Infrastruktur mit Anlaufpunkten systemisch zu erfassen und Krankheiten früh zu erkennen. Die Menschen machten mit – und zwar gemeinsam. Aus den Erfahrungen hat er die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass dieses Prinzip auch im internationalen Grundsatz gilt. Dass wir aufhören sollen, das eigene Gesundleben zu maximieren, sondern damit beginnen sollten, die Bürde – die Last – insgesamt zu reduzieren.
Mit der Reduzierung der Bürde helfe man verteilungsgerecht den Menschen, die es am meisten nötig hätten. Das Problem der Maximierung des Gesundlebens ist laut Tanner der Ausschluss von behinderten und alten Menschen, welche die grösste Bürde trügen, während man im gleichen Boot sitze. Bei einer Krise wie bei der Corona-Pandemie werde dies dann schnell vergessen.
Tanner unterstrich, dass eine «Bürdenmessung» sehr wichtig sei und das Bewusstsein gestärkt werden solle, in Krisen Hilfsinterventionen zu den Menschen zu tragen. «So können die richtigen Menschen erreicht werden.»
Geist aus der Jugend
Tanner bemängelte, dass im Gesundheitswesen die sogenannte Risiko-Benefit-Abklärung, in der Nutzen und Risiko gesamthaft abgewogen werden, fehle. Wir könnten nie verlangen, dass wir selber alles haben, sondern die Risiko-Benefit-Abklärung müsse im Sinne vom Gesundsein und Gesundbleiben auch für die ganze Gesellschaft stimmen. «Denn das ist die beste Leitlinie für Interventionen», so Tanner.
Am Schluss seines Referats plädierte Tanner im Sinne eines Ausblicks dafür, den Geist aus seiner Jugend in Diegten zurückzugewinnen – nämlich, dass es alleine im Leben nicht geht, sondern dass wir aufeinander angewiesen sind. «Damit geht es auch nie darum, Grossartiges zu leisten, sondern darum, die gewöhnlichen Dinge in unserem Leben in Anerkennung ihres inneren Wertes zu sehen und zu tun.»
Zur Person
svr. Prof. Dr. Marcel Tanner (Jahrgang 1952) gehört zu den profiliertesten Gesundheitsexperten der Schweiz. Er ist Mitglied vieler nationaler und internationaler Gremien und Beiräte auf den Gebieten der Gesundheitsplanung (in Nord und Süd), Public Health und Bekämpfung und Eliminierung von Krankheiten der Armut und vernachlässigten Tropenkrankheiten. Er ist zudem Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.