ERINNERUNGEN AN MEIN BASELBIETER DORF
03.05.2022 HölsteinAls der Gemeindepräsident auch Dorfpolizist war
Erwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
«Der Gemeindepräsident war die wichtigste politische Persönlichkeit des Dorfs. In meiner Jugendzeit hatte lange Jahre ein Arthur ...
Als der Gemeindepräsident auch Dorfpolizist war
Erwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
«Der Gemeindepräsident war die wichtigste politische Persönlichkeit des Dorfs. In meiner Jugendzeit hatte lange Jahre ein Arthur Gräflin dieses Amt inne. Er betrieb damals ein Ladengeschäft, in welchem man vom Zucker bis zu Schuhen und Kleidern alles kaufen konnte. Daneben unterhielt er noch einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb. Seine weniger bedeutenden Verwandten und Namensvettern nannten und schrieben sich bescheiden Gröflin, und nur die nähere Familie des Gemeindepräsidenten führte den nobleren Namen Gräflin.
Er herrschte unumschränkt im Dorf. Kirche, Schule, Armenpflege und Bürgergemeinde hatten sich seinen Anordnungen zu fügen. Obwohl seine Grosssöhne zu unserem Bubenclan gehörten und mit uns zusammen anderen Leuten manchen Streich spielten, getrauten wir uns nie, diesem Dorfhöchsten irgendwie nahezutreten. Instinktiv fühlten wir, dass er nicht davor zurückschrecken würde, einen ihm oder seinem Eigentum angetanen Schaden unseren Eltern zu entgelten.
Da wir keinen Polizisten im Dorf hatten, führte er uneingeschränkt auch die Polizeigewalt aus, und noch mehr, er vollstreckte auch selbstverfasste Gerichtsurteile und liess zu diesem Zweck in einem Teil des Schulhauskellers ein Gefängnis erstellen, dessen Fenster er mit Holzbrettern zuschloss, so dass seine Häftlinge im Dunkelarrest sassen. Oft befand sich damals eine Frau, die angeblich einen schlechten Lebenswandel führte und Männer in ihre Wohnung lockte, in diesem Verlies. Das Strafmass wurde vom Gemeindepräsidenten festgesetzt.
Als sie wieder einmal rückfällig geworden war, rückte der Gemeindepräsident mit einem Stück dicken Hanfseils an. Wir waren von seinen Grosssöhnen bereits über sein Vorhaben orientiert und warteten beim Kellereingang des Schulhauses auf die Dinge, die da kommen sollten. Der Dorfgewaltige holte die Sünderin aus dem Verlies. Im Kellervorraum musste sie den Rock hochziehen und sich über einen Tisch beugen; dann versetzte der Gemeindepräsident ihr mit dem Heuseil eine Tracht Prügel auf den nackten Hintern. Wir sassen auf der Kellertreppe und sahen dem Schauspiel mehr belustigt als erschreckt zu. Die ganze Zeremonie war von einem fürchterlichen Geschrei der Delinquentin begleitet.»
Aus «Erinnerungen an mein Baselbieter Dorf», von Erwin Beglinger, herausgegeben 1971, gedruckt bei Lüdin AG, Liestal. Bisher erschienen: Von Knallerbsen und anderen Zugstreichen (14. Januar); Als die Spanische Grippe wütete (1. Februar); In der «Eintracht» herrschte oft Zwietracht (18. Februar). Von sadistischen und betrunkenen Lehrern (11. März).