ERINNERUNGEN AN MEIN BASELBIETER DORF
12.04.2022 HölsteinRaufende Italiener und verschwiegene Russen
Erwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
«Wenn heutige Kämpfer gegen die Überfremdung in unser Dorf (Hölstein – die Redaktion) von vor 1914 zurückblicken ...
Raufende Italiener und verschwiegene Russen
Erwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
«Wenn heutige Kämpfer gegen die Überfremdung in unser Dorf (Hölstein – die Redaktion) von vor 1914 zurückblicken könnten, würden sie über die grosse Zahl von Italienern staunen, die bei uns, allerdings nur als Saisonarbeiter und ohne Familien, lebten. Aber welcher Unterschied gegenüber heute: Diese Italiener vertranken am Sonntag meist einen grossen Teil ihres Wochenlohns und waren dann gefürchtete Raufer, denen das Messer locker in der Tasche sass.
Am Sonntag sah man sie in sauberen Kleidern, in schwarzer Hose, weissem, offenem Hemd und roter Binde um die Hüfte der ‹Eintracht› zustreben, wo sie das ‹Säli› für sich in Anspruch nahmen, oder besser gesagt, die einheimischen Burschen liessen sie meistens allein, um mit ihnen nicht in Streit zu geraten.
Die Mädchen aus dem Dorf getrauten sich trotz der Musik des elektrischen Klaviers nicht zu den Italienern. Diesen fehlte es aber trotzdem nicht an Mädchen. Die Schönen aus Niederdorf oder sonst woher vertrieben sich den Sonntag mit Tanz, denn tanzen konnten die Italiener meistens besser als die Einheimischen. Sicher sind umgekehrt einige Mädchen aus unserem Dorf in die Nachbarschaft gezogen, um sich dort unerkannt mit den Italienern zu unterhalten.
Wir Kinder hatten wegen ihrer Rauflust einen Heidenrespekt vor diesen ‹Tschinggen›, wie sie allgemein genannt wurden, und nur vom sicheren Ort aus riefen wir ihnen zu:
Italiener, armi Chaibe
Frässe numme Brot,
Mässer in de Ranze stecke
Arme Chaib isch tot.
Auch ein verschwiegener Russe wohnte in unserem Dorf. Er arbeitete in der Uhrenfabrik und jedermann vermutete in ihm einen Sozi und Revoluzzer. Im Jahr 1917 verschwand er so leise, wie er gekommen war, wahrscheinlich ist er in seine Heimat zurückgekehrt.
1914 verliessen ausser dem Russen alle Fremden das Dorf. Von einigen Deutschen vernahmen wir später, dass sie im Krieg gefallen seien.»
Aus «Erinnerungen an mein Baselbieter Dorf», von Erwin Beglinger, herausgegeben 1971, gedruckt bei Lüdin AG, Liestal.
Bisher erschienen: Von Knallerbsen und anderen Zugstreichen (14. Januar); Als die Spanische Grippe wütete (1. Februar); In der «Eintracht» herrschte oft Zwietracht (18. Februar). Von sadistischen und betrunkenen Lehrern (11. März).