Von sadistischen und betrunkenen Lehrern
11.03.2022 HölsteinErwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
Einen wichtigen Lebensabschnitt bedeutete für uns der Schuleintritt mit sechs oder sieben Jahren. Ich erinnere mich heute noch an mein erstes farbig illustriertes Lesebuch in altdeutscher Schrift. Mit einem Storch zum ...
Erwin Beglinger erzählt von längst vergangenen Zeiten
Einen wichtigen Lebensabschnitt bedeutete für uns der Schuleintritt mit sechs oder sieben Jahren. Ich erinnere mich heute noch an mein erstes farbig illustriertes Lesebuch in altdeutscher Schrift. Mit einem Storch zum Beispiel versuchte man uns das «St» beizubringen. Die Primarschule bereitete uns mit wenig Ausnahmen geringe Sorgen. Der Ernst des Lebens begann mit dem Übertritt in die Bezirksschule in Waldenburg. Weil wir in dieser strengsten aller Schulen «erzogen» wurden, in einer Art, wie es der heutigen Jugend unvorstellbar sein muss, will ich über die Bezirksschule etwas ausführlicher erzählen, obwohl sie nicht eigentlich zu unserem Dorf gehörte.
«Wenn du bei der Aufnahmeprüfung so wenig gewusst hättest wie heute, wärest du nicht der Beste gewesen.» Mir ging es verhältnismässig gut, weil mir das Lernen wenig Mühe machte, aber andere Schüler litten schrecklich. Ich will nur kurz beschreiben, wie so ein Bezirksschultag verlief. Am Morgen um sieben Uhr besammelten wir uns am Südausgang des Dorfes. Im Sommer fuhren wir mit Fahrrädern, im Winter ging es zu Fuss nach Waldenburg. Kein Schüler hätte sich getraut, das Waldenburgerli zu benützen, er wäre von den andern als Weichling ausgestossen worden. Marschiert oder gefahren wurde in Rangordnung dem Alter entsprechend; einige Mädchen, welche die Mädchensekundarschule in Waldenburg besuchten, befanden sich am Schwanz der Kolonne. Zusammen waren wir acht bis zehn Schüler. In Niederdorf kamen die Schüler dieses Dorfes sowie vom Lampenberg dazu. Aber die Dorfgruppen blieben streng voneinander getrennt, und oft stritten wir uns, besonders mit den Oberdörfern. Das alte Schulhaus, welches leider abgerissen worden ist, hatte drei Klassenzimmer, einen Zeichnungs- und Singsaal und eine Turnhalle. Das Einzugsgebiet der Schule erstreckte sich auf Waldenburg, Langenbruck, Eptingen, Bennwil, Bretzwil, Reigoldswil, Titterten, Arboldswil, Hölstein, Lampenberg, Niederdorf und Oberdorf. Die weitesten Wege mussten die Eptinger und Bretzwiler zurücklegen. Im Winter benötigten sie auf ungebahnten Wegen bis zu vier Stunden; sie mussten demnach um vier Uhr morgens das Haus verlassen, um rechtzeitig um acht Uhr in der Schule zu sein. Wehe, wenn einer eine Minute zu spät kam.
Wenn der Unterricht um drei fertig war, kamen sie abends oft erst um sieben Uhr nach Hause und mussten dann noch viele Aufgaben erledigen. Verglichen mit diesen Leistungen war unser einstündiger Schulweg ein Kinderspiel. Das Mittagessen erhielten wir in den verschiedenen Wirtschaften von Waldenburg; viele ärmere Kinder brachten das Essen mit.
Punkt acht Uhr mussten wir mit geradem Rücken in unseren Bänken sitzen. Sobald der Lehrer das Zimmer betrat, mussten wir strammstehen. In der ersten Klasse zählte man vielleicht dreissig, in der zweiten noch etwa zwanzig und in der dritten Klasse höchstens zehn Schüler. An einem 24. Dezember kam unser Deutschlehrer, der auch Unterricht im Singen, Physik, Geschichte und Turnen gab, ins Schulzimmer und fragte: «Was lesen wir heute?» Keiner wusste eine Antwort. Dann ging er von Schüler zu Schüler, zerschlug sämtliche Lineale auf unseren Köpfen und sagte höhnisch: «Wir lesen heute ‹Friede auf Erden› auf Seite 20.» Dieser Lehrer – er würde heute wahrscheinlich als Anormaler versorgt –, intelligent, aber quälerisch bis zum Sadismus, riss verschiedentlich Schülern Haare in der Ohrengegend aus, sodass das Blut die Backen herunterlief, oder er warf, wenn er beim Gesangsunterricht einen unaufmerksamen Schüler entdeckte, diesem seinen schweren Schlüsselbund ins Gesicht; der Getroffene musste blutüberströmt weitersingen.
Der Lehrer für Zoologie, Botanik und technisches Zeichnen war oft im Unterricht betrunken. Seine Spezialität waren sogenannte Kopfnüsse, mit der geballten Faust, die Fingerknöchel nach unten, schlug er uns auf den Kopf. Die Liste dieser Quälereien liesse sich verlängern. Erst Jahre nachdem ich die Schule verlassen hatte, taten sich einige Eltern zusammen und erstatteten Strafanzeige, worauf diese beiden schlimmen Lehrer mit einer Geldbusse bestraft und ohne Gehalt für einige Monate suspendiert wurden. Unter dieser unmenschlichen Strenge litten viele Schüler und wurden an den Rand ihrer Existenz gebracht; einer versuchte später Selbstmord zu begehen, viele gaben schon in der ersten Klasse auf.
Uns blieb trotzdem noch Zeit für allerhand Streiche. In Oberdorf arbeitete täglich ein Schneider am Fenster seiner Werkstatt. Mit verschlungenen Beinen sass er auf seinem Arbeitstisch. Wir konnten nie widerstehen, ihn mit Zurufen oder Spottversen zu necken wie «Schneider meck, meck, meck», oder «Schnyder mit der Scheer, meint er syg e Heer, meint er syg e Landvogt und isch doch nummen en Geissbock». Mit der Schere in der Hand verfolgte er uns, seiner kurzen krummen Beine wegen jedoch ohne Erfolg.
Einen entscheidenden Einschnitt in unser Leben bedeutete die Konfirmation. Mit fünfzehn Jahren besuchten wir den Konfirmandenunterricht , der während eines Jahres jede Woche einen Nachmittag beanspruchte. Für uns Bezirksschüler war das eine zusätzliche Belastung, denn an diesem Nachmittag wanderten oder fuhren wir direkt von Waldenburg nach Bennwil ins Pfarrhaus, wo wir, besonders wenn tiefer Schnee lag, meistens zu spät anlangten und dann vom Pfarrer ungnädig empfangen wurden.
Aus «Erinnerungen an mein Baselbieter Dorf», von Erwin Beglinger, herausgegeben 1971, gedruckt bei Lüdin AG, Liestal. Bisher erschienen: Von Knallerbsen und anderen Zugstreichen (14. Januar); Als die Spanische Grippe wütete (1. Februar); In der «Eintracht» herrschte oft Zwietracht (18. Februar).