«Ich übernachtete draussen bei minus 6 Grad»
31.12.2021 Basel, GesellschaftJahrelang lebte Benno Fricker auf der Strasse – heute ist er Stadtführer
Als Arbeitnehmer hatte Benno Fricker stets finanzielle Probleme. Schliesslich konnte er 2015 seine Miete nicht mehr bezahlen und war daraufhin während vier Jahren obdachlos. Heute sensibilisiert der 55-Jährige als ...
Jahrelang lebte Benno Fricker auf der Strasse – heute ist er Stadtführer
Als Arbeitnehmer hatte Benno Fricker stets finanzielle Probleme. Schliesslich konnte er 2015 seine Miete nicht mehr bezahlen und war daraufhin während vier Jahren obdachlos. Heute sensibilisiert der 55-Jährige als Stadtführer die Bevölkerung für das Thema Obdachlosigkeit.
Janis Erne
Herr Fricker, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit und Jugend, die Sie im Oberbaselbiet verbracht haben?
Benno Fricker: Die ersten zehn Jahre wohnte ich in Langenbruck. Unser grosser, verwilderter Garten, das Dorf und die Wälder waren für mich wie ein grosser Spielplatz. Später zogen wir nach Lausen und der «Ernst des Lebens» begann. In Liestal machte ich schliesslich die Matura. Früher konnte man in Liestal noch an jedem Abend in den Ausgang gehen und eine gute Zeit haben. Alles in allem habe ich überwiegend positive, aber auch negative Erinnerungen ans Oberbaselbiet.
Welche Hobbys hatten Sie als junger Erwachsener?
In meinen Zwanzigern war ich zehn Jahre lang «Roadie» bei einer Rockband. Da liessen wir es krachen (lacht)! Wir spielten in der Schweiz sowie im grenznahen Deutschland und im Elsass. Das spannendste Erlebnis war eine Tour durch Russland im Jahr 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion.
Sie begannen ein Studium in Deutsch, Englisch und Geschichte an der Uni Basel.
Genau. Ernsthaft habe ich aber nicht lange studiert – vielleicht ein, zwei Semester. Nach eineinhalb Jahren habe ich aufgehört, da die Uni nicht meine Welt war. Später habe ich eine Lehre als Landmaschinenmechaniker absolviert. Die Lehre war anders als das Studium: Zwar musste ich am Anfang vor allem Putzarbeiten erledigen, doch der Job war sehr abwechslungsreich. Mir war aber klar, dass ich nicht mein Leben lang als Landmaschinenmechaniker arbeiten kann.
Wo waren Sie in den darauffolgenden Jahren tätig?
Nach der Lehre arbeitete ich in Muttenz zehn Jahre lang als Lagerist für einen Kioskbetreiber, ehe das Lager nach Egerkingen verschoben wurde. Plötzlich hatte ich einen Arbeitsweg von mehr als eineinhalb Stunden. Mit der Zeit wurde mir das zu viel. Später war ich in einer Fabrik in Reinach tätig, die Aluminiumtuben herstellte. Irgendwann ging die Firma in Konkurs und ich wechselte zu einer Kabelfabrik in Breitenbach. Rückblickend kann ich sagen, dass ich fast in der ganzen Region gearbeitet habe.
Zum Moment, als Sie im Herbst 2015 auf der Strasse landeten, sagten Sie gegenüber der «Oberbadischen Zeitung» Folgendes: «Ich konnte endlich wieder durchatmen, weil eine über die Jahre angesammelte Last von mir fiel.» Was meinten Sie damit?
Vor der Obdachlosigkeit habe ich zwei Jahre lang gekämpft, um über die Runden zu kommen, und hatte ständig Ärger mit Ämtern und Verwaltungen. Im Moment, als ich die Rechnungen nicht mehr bezahlt habe, fiel der finanzielle Druck von mir und es fühlte sich wie eine Befreiung an. Gleichzeitig wusste ich genau, was auf mich zukommt, als ich mich für die Obdachlosigkeit entschieden habe.
Wie gestaltete sich der Alltag in als Obdachloser?
Ich musste mich jeweils zwingen, früh aufzustehen und am Morgen etwas zu essen. Ich wusste nie, wann es das nächste Mal etwas zu essen gibt. Tagsüber hielt ich mich meist im Tageshaus an der Wallstrasse oder im Treffpunkt Kleinbasel auf. Abhängig von meiner finanziellen Lage und dem Menüplan musste ich mich entscheiden, ob ich mir dort ein warmes Mittagessen gönnen oder ob ich mich mit einem Gratis-Dessert begnügen soll – und dafür aber abends in der Gassenküche etwas Warmes esse. Den Nachmittag habe ich damit verbracht, mit Bekannten zusammen zu sein, das Internet zu erkunden oder Bücher zu lesen. Ausserdem habe ich mit meinem Laptop zwei, drei Webseiten aufgebaut. So konnte ich interessante Artikel über politische Themen speichern. Am Abend konnte ich oftmals in der Gassenküche das warme Essen mit Gutscheinen bezahlen, da ich ab und zu in der Küche aushalf.
Apropos Arbeit: Wie kamen Sie als Obdachloser zu Geld?
In der Gassenküche konnte ich neben der Küchenaushilfe bei der Altpapiersammlung und beim Einkaufen mit anpacken. Dafür gab es ein paar Gutscheine für das Essen. Mit meiner Arbeit waren sie wohl meistens sehr zufrieden – denn wenn Not am Mann war, wurde ich oft angefragt. Die Tätigkeit für die Gassenküche reichte aber bei weitem nicht, um finanziell über die Runden zu kommen. Ich bin froh, dass mich meine Freundin, die in der Nähe von Saarbrücken wohnt, finanziell unterstützt hat. Heute bin ich daran, ihr das Geld zurückzuzahlen.
Hatten Sie nie Bedenken, im Winter bei Minustemperaturen im Freien zu übernachten?
In der kältesten Zeit des Jahres durfte ich jeweils ein, zwei Monate bei meiner Freundin in Deutschland wohnen. Wenn ich in Basel war, nutzte ich jeweils zwei Schlafsäcke. Beim Einschlafen war mir nie kalt, und so konnte ich drei bis vier Stunden schlafen, ehe es am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr auch im Schlafsack kalt wurde. Minus sechs Grad war die tiefste Temperatur, bei der ich draussen geschlafen habe. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Kälte.
Im Frühling 2019 hatten Sie die Erkenntnis, dass Sie den nächsten Winter nicht mehr auf der Strasse verbringen wollen. Weshalb genau dann?
Langsam, aber sicher hatte ich genug vom Leben im Freien. Es gab nicht den einen Schlüsselmoment. Der Entschluss ist über Monate hinweg gereift. Zur gleichen Zeit – als ich den Entschluss gefasst hatte, von der Strasse wegzukommen – hat mich eine Bekannte angefragt, ob ich nicht für «Surprise» als Stadtführer arbeiten möchte. Nach meiner Zusage habe ich eine entsprechende Ausbildung begonnen, die sich aufgrund der Pandemie etwas in die Länge gezogen hat.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie sonst noch auf das Leben von Obdachlosen?
Zu Beginn der Pandemie, als die sozialen Einrichtungen auf Take-away umgestellt hatten, war es sehr einschneidend, dass die sozialen Kontakte wegbrachen. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wo sich die anderen Obdachlosen aufhalten.
Zurück zu Ihrer heutigen Tätigkeit als Stadtführer: In dieser Funktion leiten Sie Touren und zeigen den Teilnehmenden Basler Orte, an denen sich das Leben von Obdachlosen und Armutsbetroffenen abspielt.
Richtig. Seit einem Jahr führe ich selbstständig solche zweistündigen Touren durch. Die Führungen finden nahezu jede Woche statt und werden von vielen Schulklassen und Studentengruppen in Anspruch genommen. Viele Schülerinnen und Schüler sind von den Informationen und Eindrücken überwältigt und die Tour stellt für sie ein Erlebnis dar. Die meisten Leute sind bei den Führungen sehr aufmerksam und interessiert, das freut mich.
Als Stadtführer wurden die Medien auf Sie aufmerksam. Wie kamen Sie damit zurecht, dass plötzlich die mit Ihnen reden wollten?
Als ich erste Medienanfragen erhielt, musste ich mich zunächst fragen, ob ich das wirklich will. Doch als ich die rote «Surprise»-Jacke angezogen habe, wurde mir klar, dass ich in die Öffentlichkeit gehen werde. Auch über die Anfrage der «Volksstimme» habe ich mir Gedanken gemacht: Im Oberbaselbiet gibt es sicherlich Leute, die mich von früher kennen, aber nichts von meiner vierjährigen Obdachlosigkeit wissen. Diese Leute könnten aus allen Wolken fallen. Letztlich ist die Obdachlosigkeit aber ein Teil meines Lebens, zu dem ich stehe.
Gibt es in der Region genügend Hilfsangebote für Obdachlose?
In Basel gibt es vielfältige Angebote für Obdachlose. Die Gassenküche, das Tageshaus, der Treffpunkt Kleinbasel, das «Soup&Chill» und der Verein für Gassenarbeit sind wichtige Anlaufstellen. Im ersten Jahr meiner Obdachlosigkeit besuchte ich zudem oftmals das Café Unternehmen Mitte, da es dort keinen Konsumzwang gab. Ich konnte an meinem Stammplatz den Laptop aufladen und das Wlan benutzen. Leider erteilte der Chef des Cafés irgendwann allen Obdachlosen Hausverbot. In Liestal hingegen hätte ich nicht vier Jahre lang auf der Strasse leben können, da dort die Unterstützung fehlt. Es gibt keine Gassenküche, kein Tageshaus und keine Notschlafstelle.
Bräuchte es in Basel eine Notschlafstelle, die kostenlose Übernachtungen anbietet?
Pro Übernachtung in der Notschlafstelle zahlen alle in Basel angemeldeten Personen 7,50 Franken und Auswärtige 40 Franken. Zum Vergleich: In Deutschland sind die Notschlafstellen gratis. Bei der Debatte über kostenlose Angebote für Obdachlose kommt regelmässig das Argument der Sogwirkung auf. Sogwirkung bedeutet, dass kostenlose Angebote mehr Obdachlose anziehen würden. Meiner Meinung nach gibt es diesen Effekt nur in minimster Art und Weise. Und selbst wenn es eine gewisse Sogwirkung geben würde: Unsere Gesellschaft hat genügend Mittel, um allen ein Bett und eine warme Mahlzeit bieten zu können. Zumal die wenigsten Obdachlosen – und nicht wie gemeinhin angenommen die Mehrheit – arbeitsscheu sind. Armut hat immer individuelle Gründe.
Zur Person
je. Benno Fricker hat den Grossteil seines Lebens im Baselbiet verbracht, ehe er vor 15 Jahren nach Basel gezogen ist. In der Stadt war er aufgrund finanzieller Probleme lange Zeit obdachlos. 2019 entschloss er sich, sein Leben nochmals umzukrempeln. Heute arbeitet der 55-Jährige als Stadtführer für «Surprise» und lebt in einer Wohnung.
Was ist «Surprise»?
vs. Der gemeinnützige Verein Surprise mit Geschäftssitz in Basel und Regionalstellen in Zürich und Bern unterstützt Arbeitslose auf verschiedene Weise, um ihren Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Mehrere Personen, darunter auch der 55-jährige Benno Fricker, führen soziale Stadtrundgänge für Gruppen und Einzelpersonen durch. Dabei wird den Interessierten gezeigt, wie Arbeitslose in Basel leben, welche Hilfen ihnen zuteil werden und wo sie auch Unterkunft finden. Ein zweites Standbein des Vereins ist der Verkauf des eigenen Magazins «Surprise». Dabei werden Arbeitslose gezielt als Strassenverkäuferinnen und -verkäufer geschult und dann eingesetzt. Die Auflage von «Surprise» beläuft sich auf rund 19 000 Exemplare. Schliesslich gehören auch die Beratung und Begleitung der Arbeitslosen sowie Aktivitäten wie Strassenfussball zum Gesamtprogramm von «Surprise».