«Gibt es weniger Armut, geht es allen besser»
26.11.2021 Anwil505 Personen haben eine Petition unterzeichnet, die fordert, dass die neu zu schaffende Kommission für Armutsfragen zu einem Drittel mit Personen mit Armutserfahrung besetzt wird. Alt Landrätin Elisabeth Augstburger (EVP) erklärt als Mitunterzeichnerin der Petition, ...
505 Personen haben eine Petition unterzeichnet, die fordert, dass die neu zu schaffende Kommission für Armutsfragen zu einem Drittel mit Personen mit Armutserfahrung besetzt wird. Alt Landrätin Elisabeth Augstburger (EVP) erklärt als Mitunterzeichnerin der Petition, weshalb.
Paul Aenishänslin
Frau Augstburger, wofür braucht es in der neuen Kommission für Armutsfragen Betroffene?
Elisabeth Augstburger: Die Zusammensetzung dieser Kommission soll ausgewogen sein. Darum braucht es in ihr auch Menschen mit eigener Armutserfahrung. Sie wissen Bescheid, worum es geht. Ihnen ist unsere Wertschätzung zu zeigen. Würde die Kommission zwölf Mitglieder haben, wären ihnen vier Sitze zu geben, zwei Frauen und zwei Männern unterschiedlichen Alters und erlebter Armutssituation.
Welche Fachkommissionen gehören Ihres Erachtens in diese neue Kommission?
Bei auch vier Vertreterinnen und Vertretern aus Fachorganisationen sähe ich Caritas beider Basel, ATD Vierte Welt Region Basel, Winterhilfe Baselland und die Kirchen mit je einem Mitglied.
Und wer aus Verwaltung und Politik?
Hier sähe ich zwei Personen aus dem Sozialamt und aus dem Bereich Finanzen der Kantonsverwaltung sowie zwei Politiker, je einen aus dem linken und dem rechten Spektrum.
Wann wird der Regierungsrat die Kommission besetzen und wann soll sie ihre Arbeit aufnehmen?
Darüber besteht noch keine Klarheit. Zweck unserer Petition war auch, die Regierung zu ermuntern, mit der Schaffung der Kommission vorwärtszumachen.
Welche Fragen sollte die neue Kommission prioritär behandeln und welche Massnahmen als Erstes vorschlagen?
Es gibt das von der Regierung in Auftrag gegebene Strategiepapier über Armutsfragen mit 46 Handlungsempfehlungen, das seit rund drei Jahren vorliegt, aber im Landratsplenum nie diskutiert wurde, was zu bedauern ist. Die neue Kommission sollte sich zuerst mit diesem vorgeschlagenen Massnahmenkatalog beschäftigen und darum besorgt sein, dass es mit der Umsetzung der als am dringendsten erkannten Massnahme rasch vorwärtsgeht.
Wie gross ist die Armut im Baselbiet?
Im Jahr 2017 waren 6 Prozent der Baselbieter Bevölkerung oder 25 000 Personen von Armut betroffen. Heute dürften es um 7 Prozent sein. Diese Zahlen zeigen, dass ein dringender Handlungsbedarf besteht, unter Einschluss der direkt Betroffenen wirksame Massnahmen gegen die Armut in unserem Kanton zu ergreifen.
Wann gilt eine Person in unserem Kanton als «arm»?
Arm ist eine Person, bei der aus finanziellen Gründen die soziale Teilnahme an der Gesellschaft nicht möglich ist und die den Alltag nicht ohne externe Hilfe bewältigen kann. Eine Person, die monatlich über weniger als 1200 Franken (ohne Krankenkasse und Miete) zur Deckung aller Bedürfnisse verfügt, wird bei uns in aller Regel als arm betrachtet, wobei es natürlich auch noch auf die individuellen Lebensumstände ankommt.
Welche Lebensumstände führen am häufigsten in die Armut?
Es handelt sich meist um eine Verkettung unterschiedlicher Umstände, die zur Armut führen. Geringe Bildung, die es manchmal schwierig macht, eine Stelle zu finden. Manchmal verliert eine Person einen guten Arbeitsplatz und findet wirtschaftlich den Anschluss nicht mehr, was zu einer Abwärtsspirale in die Sozialhilfe und Armut führt. Ein weiterer Faktor, neben psychischen Umständen, sind Diplome, die im Ausland erworben wurden und in der Schweiz nicht anerkannt sind. Eine besondere Herausforderung haben auch getrennt lebende oder geschiedene Frauen mit Kindern, die aus verschiedenen Gründen zu wenig Unterstützung haben.
In welchen Alters- und Bevölkerungsgruppen gibt es am meisten Arme?
Es kann jede und jeden treffen, je nach Lebensumständen: Migrantinnen und Migranten, geschiedene oder getrennt lebende Frauen ohne oder mit niedriger Pensionskasse; wir kennen Altersarmut ohne Beanspruchung der Ergänzungsleistungen, «Working Poors» mit Kindern, bei denen das Einkommen nicht reicht, um alle Lebenshaltungskosten zu decken, geschweige denn mit den Kindern an die Herbstmesse, in den «Zolli» zu gehen oder Ferien zu machen.
Hat die Covid-19-Pandemie der vergangenen zwei Jahre das Armutsproblem verschärft?
Tendenziell ja, indem etliche Arbeitgeber gezwungen waren, ihren Betrieb zu schliessen oder das Personal zu reduzieren. Dadurch haben zahlreiche Menschen ihre Arbeit verloren. Für über 50-Jährige ist es schwieriger, eine Stelle zu finden. Arbeitgeber sollten deshalb ermutigt werden, sie in ihrem Betrieb anzustellen. Sie bringen Lebenserfahrung und grosse Branchenkenntnis mit und würden bis zur Pensionierung in der Firma bleiben.
Wie könnte den Armen in unserem Kanton am besten geholfen werden?
Ich sehe vier Ansatzpunkte: Verbesserung der Prämienvergünstigungen bei den Krankenkassen, Ausbau der Mietzinsvergünstigung, Ergänzungsleistungen für Familien wie im Kanton Solothurn und Unterstützung bei der Bildung.
Es gibt auch Konzepte wie eine negative Einkommenssteuer oder ein bedingungsloses Grundeinkommen. Was halten Sie davon?
Pilotprojekte in einigen Ländern tönen interessant. Gerade das bedingungslose Grundeinkommen könnte grosse Möglichkeiten zur Armutsbekämpfung eröffnen. Wird es so ausgestaltet, dass andere Unterstützungen, wie etwa die Sozialhilfe, abgebaut werden können, haben wir einen bedeutenden Schritt gemacht.
Ist die Armutsbekämpfung Sache der Gemeinden, der Kantone oder des Bundes?
Der Bund schafft die Rahmenbedingungen. Für die Umsetzung sind die Kantone und die Gemeinden verantwortlich. Eine gute Zusammenarbeit ist hier wichtig und hilfreich.
Was gewinnt das einzelne Mitglied unserer Gesellschaft, ob arm oder nicht arm, wenn es generell weniger Armut geben würde?
Gibt es weniger Arme, geht es uns allen besser.
Inwiefern?
Die Gesellschaft kann sich vermehrt anderen wichtigen Fragen zuwenden.
Zur Person
pae. Elisabeth Augstburger (60) blickt auf eine lange politische Karriere als EVP-Landrätin und Liestaler Einwohnerrätin zurück. Die Mutter zweier erwachsener Töchter ist Mitglied in vielen Gremien, die sich mit Frauen- und Gesellschaftsfragen befassen. Sie wirkt als Präsidentin von «Frauenplus BL», als Coach AIP Plus Pratteln und als Leiterin Deutschkurse für fremdsprachige Frauen in Liestal.