Lange Haare
26.11.2021MEINE WELT
Ich traf einen alten Bekannten auf der Strasse. Schon eine Weile hatte ich ihn nicht mehr gesehen – und um ein Haar hätte ich ihn nicht erkannt. Denn er trug die Haare lang. Ich kannte ihn bloss mit seiner typischen Frisur, und die war ...
MEINE WELT
Ich traf einen alten Bekannten auf der Strasse. Schon eine Weile hatte ich ihn nicht mehr gesehen – und um ein Haar hätte ich ihn nicht erkannt. Denn er trug die Haare lang. Ich kannte ihn bloss mit seiner typischen Frisur, und die war fussballstadionkurvenkurz.
Auf seinen verwilderten Look angesprochen, meinte er, daran sei sein Coiffeur schuld. «Welcher Coiffeur?», fragte ich. «Du siehst nicht aus, als hättest du in letzter Zeit einen gesehen.» Mein Bekannter lächelte: «Ich sehe ihn oft. Sicher einmal die Woche komme ich an seinem Salon vorbei. Ich winke ihm durch das Fenster zu. Er grüsst dann nickend zurück. Aber ich gehe nicht mehr rein.» «Weshalb?» «Es fing schon an, als es mit dieser Sache anfing, mit dem Virus. Er war von Anfang an kritisch, meinte, es handle sich um Angst- und Geldmacherei der Pharmaindustrie. Grippe hätte es schon immer gegeben. Das übliche Geschwurbel.
Auch, als er dann aus dem Lockdown kam, änderte sich nichts an seiner Haltung. Und als die Impfungen da waren, meinte er, er lasse sich sicher nicht pieksen, sich irgendwelches Zeug spritzen, von dem er nicht wisse, was drin sei. Ich fragte ihn, ob er wisse, was in den Zigaretten sei, die er rauche, und was denn gegen eine Impfung spreche. Er meinte, es sei ein Bauchgefühl, er wolle einfach zuwarten. Bis mehr Informationen vorhanden wären, über Langzeitfolgen etwa. Das sei sein gutes Recht. Und ich sagte ihm: ‹Das ist falsch! Das ist dumm! Aber wenn du es so willst, dann lasse ich mir die Haare nicht mehr von dir schneiden. So lange, bis du es dir anders überlegst.›»
Mein alter Bekannten schüttelte seine Mähne: «Typen wie mein Coiffeur stimmen mich traurig. Ich denke, es geht uns hier in der Schweiz einfach zu gut. Noch immer. Unser Lockdown war ja, verglichen mit jenem in Frankreich etwa, das reinste Dolce Vita. Die waren dort tatsächlich in ihren Häusern eingesperrt. In Spanien auch, oder in Portugal. Deswegen lassen sich die Menschen dort nun auch impfen, denn sie haben dem Virus tief in die Augen geblickt. Wir hier aber, auf der von Coronawellen umspülten Insel der Ahnungslosen, denken noch immer, ein bisschen Ziegenbuttersalbe, auf die Brust geschmiert, erlöse von allen Leiden. Wir Schweizer waren ja noch nie ein besonders solidarisches Volk, jeder kocht gerne sein eigenes Süppchen, das war mir schon immer klar, aber dass es so schlimm um uns steht, das hätte ich doch nicht gedacht.»
«Und warum gehst du nicht einfach zu einem anderen Coiffeur?», wollte ich schliesslich wissen. «Das hiesse, ihn aufzugeben. Doch ich glaube daran, dass er noch zur Vernunft kommen wird. Das ist das, was ich ihm gesagt habe: Die Haare wachsen, bis er sich impfen lässt.» «Da kannst Du vielleicht lange warten.» «Ich habe gegoogelt. Haar wächst pro Monat einen Zentimeter. In fünfzehn Jahren berührt es also den Boden.» «Eine lange Zeit!» «Ja, aber du weisst ja, wie man gerne sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.»
Max Küng wurde 1969 geboren und ist auf einem Bauernhof in Maisprach aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich und ist ein landesweit bekannter Kolumnenschreiber.