TURNERBLICK
28.10.2021 BildungWarten auf Giulia
«Wann kommt eigentlich Giulia?» Mit fragendem Blick wandte sich meine Tochter mir zu, als wir vergangene Woche gerade gemeinsam im Fernsehen die Bodenübung der russischen Kunstturnerin Angelina Melnikowa an den Weltmeisterschaften in ...
Warten auf Giulia
«Wann kommt eigentlich Giulia?» Mit fragendem Blick wandte sich meine Tochter mir zu, als wir vergangene Woche gerade gemeinsam im Fernsehen die Bodenübung der russischen Kunstturnerin Angelina Melnikowa an den Weltmeisterschaften in Kitakyushu verfolgten. Mit Giulia meinte sie Giulia Steingruber. Verständlich, gab es in den vergangenen Jahren – nicht nur aus Schweizer Sicht – im Kunstturnen kein Vorbeikommen an der Gossauerin. Die Olympia-Bronze-Medaillengewinnerin von Rio 2016 war von Klein bis Gross allen ein Begriff. So auch meiner Tochter. Während Giulia in den vergangenen Jahren jeweils im Fernsehen zu sehen war, sass meine Tochter gespannt davor und war begeistert von dem Können und den Bewegungen der 27-Jährigen. Dass wir am besagten Tag vergangene Woche gerade der frischgebackenen Olympiasiegerin zugeschaut hatten, wie diese mit ihrer abschliessenden Bodenübung auch noch den Weltmeistertitel im Mehrkampf einheimste, war für meine Tochter nebensächlich.
Rund drei Wochen vor der WM in Japan gab Giulia Anfang dieses Monats nach elf Jahren im Nationalkader ihren Rücktritt bekannt. Für die Schweizer Sportwelt ging damit eine unglaubliche Erfolgsgeschichte zu Ende und für meine Tochter wohl die Wichtigkeit, auch in Zukunft gemeinsam mit Papa Kunstturnen im Fernsehen zu verfolgen. Denn während ich mir die diversen Übungen und Elemente berufsbedingt zu Gemüte geführt habe, sah es mein Nachwuchs als Inspiration für ihr eigenes Können. Auf die jeweiligen Fragen, ob ich Kunststücke, die beispielsweise Pablo Brägger jeweils in Perfektion zu zeigen vermochte, auch beherrsche, blieben mir dann meist nur ausweichende Ausreden übrig. In dieser einzigen Hinsicht konnte ich froh sein, dass auch Brägger vor Kurzem seine erfolgreiche Karriere beendet hat. So nehmen wenigstens diese Vergleichsfragen etwas ab. Denn was interessieren meine Tochter schon Übungen eines mehrfachen Weltmeisters wie Nikita Nagorny?
Bis zum Schluss haben wir vergangene Woche im Mehrkampf-Final der WM bekanntlich umsonst auf Giulia gewartet. Umso schwieriger wurde es dann mit der Dauer des Wettkampfes, Gründe zu finden, weshalb Papa dennoch bis zum Ende schauen wollte. Nachdem die Hiobsbotschaft des Rücktritts verarbeitet war, folgte dann sogleich die nächste Frage: «Aber gell, Papa, Giulia turnt trotzdem noch?» – «Bestimmt», erwiderte ich. Wer nämlich einmal dem Turnvirus verfallen ist, den lässt es nicht mehr so schnell los. Dazu bedarf es nicht zwingend einer Spitzensport-Karriere. Womit der Papa abschliessend wenigstens in einem Vergleich doch noch mit den Topcracks mithalten konnte.
Thomas Ditzler arbeitet beim Schweizerischen Turnverband und ist ehemaliger «Volksstimme»-Sportredaktor.