Covid-19 und Klimaerwärmung
29.10.2021 GesellschaftFreiheit und Demut
Zum «Carte blanche»-Beitrag «Die rote Linie» in der «Volksstimme» vom 26. Oktober, Seite 2
Es ist eine bizarre Welt, in der wir heute leben. Während die Klimaexpert/-innen der UNO kurz vor dem 26. Klimagipfel ...
Freiheit und Demut
Zum «Carte blanche»-Beitrag «Die rote Linie» in der «Volksstimme» vom 26. Oktober, Seite 2
Es ist eine bizarre Welt, in der wir heute leben. Während die Klimaexpert/-innen der UNO kurz vor dem 26. Klimagipfel in Glasgow davor warnen, dass sich die Menschheit mit ihrer dilettantischen und drückebergerischen Klimapolitik am Abgrund befände und dass mit einem Anstieg der Erderwärmung um 2.7 Grad zu rechnen sei, pilgern Tausende von Schweizer/- innen nach Bern und protestieren nicht etwa gegen unsere ungenügende Klimapolitik, sondern sie rufen «liberté, liberté!» und beklagen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemiebekämpfung – wie nun etwa auch die Grünen-Politikerin Laura Grazioli – eine «dystopische Abwärtsspirale» und misstrauen grundsätzlich unserem politischen System.
Dieses System ermöglicht uns immerhin als wohl einzigem Land auf der Welt, dass es schon zum zweiten Mal eine demokratische Abstimmung zur Pandemiebekämpfung gibt. Wir verfügen heute mit der Impfung über ein wirksames Instrument, das Virus in den Griff zu kriegen. Der Entschluss, sich impfen zu lassen, ist wohl bei den meisten Menschen das Resultat einer nüchternen Risiko-Abwägung: Impfen ist einfach ein Gebot der Vernunft und des Gemeinsinns. Nun aber wird daraus ein hysterischer Kampf um unsere Freiheit: Ich will mich nicht impfen und nicht testen lassen! Ich will die Kontrolle über mich nicht verlieren! Ich will keinen Nadelstich! Ich und mein Immunsystem schaffen das! Ich will ein normales Leben ohne jede Einschränkung. Ich will, ich will!
Dabei lehrt uns gerade die Klimaerwärmung, dass dieses Egotrip-Verständnis von Freiheit völlig überholt ist. Wenn wir mit unserer masslosen und zerstörerischen Wirtschaftsweise weiterhin natürliche Lebensräume zerstören, wird es noch etliche solcher Virensprünge und damit solcher Pandemien geben. Wenn wir meinen, wir könnten weiterhin so viel produzieren und konsumieren, so werden uns Wasserknappheit, Überschwemmungen und riesige Flüchtlingsbewegungen eines anderen belehren. Es geht heute nicht um die Freiheit, sondern darum, dass wir uns in Demut zu üben beginnen, die ökologischen Grenzen zu respektieren, als Individuum und als Gemeinschaft. Denn wenn wir das nicht tun, wird uns die Natur als homo sapiens wegputzen. Dem Corona-Virus «Freiheit, Freiheit!» entgegenzurufen, hält es nicht davon ab, zu mutieren. Freiheit können wir heute nur noch als ganze Menschheit erhalten. Und natürlich ist dieser Kampf sehr viel widersprüchlicher und komplexer als die Frage, ob man für oder gegen die Zertifikatspflicht ist.
Georg Geiger, Grüne, Tenniken