Letzte Chance auf dem Bauernhof
08.07.2021 OltingenBetreuungsprogramm «arrivo-bene» für Jugendliche in Krisensituationen
Auf dem Hof Wolfloch bei Oltingen bietet Toni Gass bis zu sechs verhaltensauffälligen Jugendlichen in einem langjährigen stationären Aufenthalt eine betreute Tagesstruktur an. Eine grosse Herausforderung für ...
Betreuungsprogramm «arrivo-bene» für Jugendliche in Krisensituationen
Auf dem Hof Wolfloch bei Oltingen bietet Toni Gass bis zu sechs verhaltensauffälligen Jugendlichen in einem langjährigen stationären Aufenthalt eine betreute Tagesstruktur an. Eine grosse Herausforderung für alle.
Sander van Riemsdijk
Überall dort, wo die noch junge Lebensgeschichte von heranwachsenden Jugendlichen kleine und grössere Risse bekommt und die eigene Familie auseinandergefallen ist, bietet der Verein «arrivobene» (auf Deutsch: gute Ankunft) Unterstützung an. Die Dienstleistungen des Vereins richten sich an Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren sowie junge Erwachsene bis 25 Jahre, die sich fast ausnahmslos in Krisensituationen befinden. Viele «arrivo»-Klienten konnten sich in den üblichen pädagogischen Einrichtungen nicht einleben oder hätten sich in solchen geweigert, die Unterstützung anzunehmen, erklärt Geschäftsführer Ernesto Hauri.
Das Betreuungsspektrum reicht von einem Kurzaufenthalt in ausgesuchten Pflegefamilien («Time-out») bis zu Langzeitplatzierungen im Kleinheim «arrivo» und im Generationenhaus Rapunzel, beide in Oltingen. Die Dauer eines «Time-outs» in einer Familie kann von einer Woche bis zu drei Monaten dauern. «Wichtig dabei ist, dass die Betreuung dieser Familien durch unsere Familienplatzierungsorganisation als Teil des Betriebskonzepts gewährleistet ist», sagt Hauri.
Die oft sehr kurzfristige Aufnahme eines Jugendlichen, der sich in einer schwierigen Lebensphase befindet, bedeute für alle Familienmitglieder eine enorme Belastung. Die grösste Schwierigkeit sei dabei, eine geeignete, stabile Familie für diese verhaltensauffälligen Jugendlichen zu finden. «Wir nehmen eigentlich jene Jugendlichen auf, die sonst niemand will», beschreibt er vereinfacht die Aufnahmephilosophie des Vereins.
Für viele Jugendliche, die Mühe bekunden, emotionale Stabilität in ihr Leben zu bekommen, ist die Aufnahme in das Betriebskonzept des Vereins oft die letzte Chance, ihre Zukunft in die richtigen Bahnen zu lenken. So können sie den nächsten, unvermeidlichen Schritt ins Jugendgefängnis oder in die Psychiatrie vermeiden.
Heim für bis zu sechs Jugendliche
Etwas ausserhalb von Oltingen liegt der Hof Wolfloch von Toni Gass. Das Kleinheim «arrivo» mit bis zu sechs Betreuungsplätzen ist in seinen Hof integriert. Die Plätze stehen verhaltensauffälligen Jugendlichen für längere bis sehr lange Zeit zur Verfügung. «Manchmal bleiben sie mehrere Jahre bei uns, bevor sie den Weg in die Eigenund Selbstständigkeit machen können», sagt Toni Gass, Berufsbildner und Vereinspräsident von «arrivo-bene». Auch minderjährige unbegleitete Asylsuchende oder Jugendliche mit einer kriminellen Vergangenheit finden auf seinem Hof für längere Zeit einen Platz.
Der Übergang der Klientinnen und Klienten vom Jugendalter aus zerrütteten Verhältnissen ins Erwachsenenalter ist oft schwierig zu meistern. Diese Erfahrung macht Gass seit mehr als 30 Jahren Tag für Tag. Wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer adäquaten Begleitung ist, dass der oder die Jugendliche sich mit den Wohn- und Betreuungsmodalitäten identifizieren kann. «Wenn jemand nicht bei uns sein will, nützen die besten Voraussetzungen nichts.»
Damit die Klienten einer straff organisierten Tagesstruktur mit langen Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft rund um die Uhr betreut werden können, wird Toni Gass von Sozialpädagogen und Arbeitsagogen unterstützt. Da die Jugendlichen aufgrund ihrer persönlichen Schwierigkeiten in der Regel keine öffentliche Schule besuchen können, bieten zwei Lehrkräfte Einzelunterricht an. Auf dem «Wolfloch» haben die Jugendlichen zudem die Möglichkeit, eine Lehre in der Landwirtschaft oder in der Pferdewirtschaft zu absolvieren.
Das grösste Problem in der Begleitung dieser fast ausnahmslos männlichen Jugendlichen des Programms sind Drogen. «Das bekommt man kaum in den Griff», sagt Toni Gass. «Sie kommen dadurch oft nicht so richtig in Schwung und es fehlt ihnen dann an Motivation, mitzuarbeiten.» Psychische Auffälligkeiten und eine Tendenz zur Gewaltanwendung aufgrund ihrer delinquenten Vorgeschichte prägten manchmal den Alltag.
Mehrere Kameras, verteilt über den ganzen Hof mit seinen Pferden, Schafen, Schweinen und Rindern, sollen helfen, dass in Notsituationen schnell eingegriffen werden kann und schwierige Momente ausgewertet werden können. Der Tag im «Wolfloch» ist durchstrukturiert und streng: Am Morgen um 7 Uhr ist Tagwache und Feierabend ist oft erst am Abend spät, insbesondere in den arbeitsintensiven Frühlings- und Sommermonaten. «Damit niemand auf dumme Gedanken kommt», begründet Toni Gass den für viele Jugendliche ungewohnten Alltag.
Auf Augenhöhe begegnen
Ihm ist es wichtig, dass er den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnet. Eine belehrende Kommunikation führe in der Regel nicht zum Ziel. Toni Gass ist direkt und unverblümt und ein kräftiger, gestandener Mann. Die Jugendlichen akzeptieren ihn als Autorität. Auch nach 30 Jahren spürt man noch das Herzblut, mit dem Gass die herausfordernde Aufgabe meistert, um den ihm anvertrauten Jugendlichen die Chance zu bieten, sich eine neue Perspektive zu erschaffen. «Neben allen Problemen, die ein solches Zusammenleben nun mal mit sich bringt, lachen wir auch viel», sagt er. Die Betreuung besteht schliesslich nicht nur aus zwischenmenschlichen Spannungen.
Gass ist auf die Unterstützung seiner Frau angewiesen, die für die Hauswirtschaft verantwortlich ist. Insbesondere schätzt er das Verständnis der Dorfbevölkerung und deren Unterstützung. Diese sei essenziell für seine Arbeit mit den Jugendlichen. Es freue ihn auch immer wieder, wenn ehemalige Bewohner ihn besuchen kämen, manchmal mit der eigenen Familie.
Toni Gass ist 59 Jahre alt und macht sich allmählich Gedanken darüber, wie es mit «arrivo» weitergehen soll, wenn er aus Altersgründen kürzertreten muss. Lässt sich überhaupt jemand finden, der wie er bereit ist, sein ganzes Leben auf die Betreuung von schwierigen Jugendlichen auszurichten?