Wale antworten nicht
06.05.2021 SissachReisen in die Vergangenheit (V): Bequia
Weihnachten 2020. Ich sitze am Strand von Bayahibe, einem kleinen Ort auf Hispaniola, und versuche mich an vergangene Zeiten zu erinnern, in denen man ein Flugzeug oder ein Schiff ans nächste Ziel besteigen konnte. Ich beschliesse, die Karibik ...
Reisen in die Vergangenheit (V): Bequia
Weihnachten 2020. Ich sitze am Strand von Bayahibe, einem kleinen Ort auf Hispaniola, und versuche mich an vergangene Zeiten zu erinnern, in denen man ein Flugzeug oder ein Schiff ans nächste Ziel besteigen konnte. Ich beschliesse, die Karibik noch einmal zu bereisen – in Gedanken. Es werden Reisen in die Vergangenheit sein.
Hanspeter Gsell
Wale sind geschützt. Ausser in Japan, Norwegen und einigen anderen barbarischen Ländern. Sowie auf der Insel Bequia in der südlichen Karibik. Wale sind niedlich. Wenn sie so aus dem Meer springen, mit ihren Extremitäten aus dem Wasser winken, um sich anschliessend wieder zurückfallen zu lassen. An anderen Orten dieser Erde kann man sich Knut den Eisbären oder Fanny das Elefäntchen angucken. In Bequia beguckt man Wale!
Als die wenigen Hotelgäste zum Frühstück eintrafen, stellten sie fest, dass irgendetwas nicht stimmte. Weder wurden sie von Shary, der guten Seele des Hauses, begrüsst, noch war sonst eine Menschenseele zu sehen. Auf dem Frühstücksbuffet fehlten überdies die pappig schmeckenden Brötchen. Nur der aus dem Konzentrat brasilianischer Früchte von einem französischen Konzern in Belgien abgefüllte Orangensaft aus Florida schwappte leise und abgestanden vor sich hin. Hilflos, wie es nur Touristen sein können, standen die Hotelgäste in der Gegend herum und überlegten sich bereits, wie sie die Klage gegen das Reisebüro formulieren sollten.
Alarm!
Kurz bevor sie ihre Bleistifte zücken konnten, kam Shary im wallenden Pareo angerannt, lüftete kurz denselben und anschliessend das Geheimnis: Die Bevölkerung war auf Walfang! Denn Wale sind hier nicht niedlich, heissen weder Knut noch Mobi, sondern gehören zur Diät. So ein ausgewachsener Wal kann die Menschen auf der Insel locker drei Monate ernähren.
Nachdem man in der Früh’ einen Wal vor der Küste entdeckt hatte, war man sich sofort einig, das Vieh nicht als Touristenattraktion zu verschleudern. Man alarmierte den Gouverneur. Dieser beauftragte umgehend den Jagdaufseher, die nasse Hatz zu organisieren. Späher wurden auf die nahen Hügel ausgesandt, um von dort Ausschau zu halten. Jeder bekam ein Stück eines alten Spiegels und den Auftrag, gut zu spähen und etwelche Sichtungen mittels geheimer Blinksignale an den Jagdaufseher weiterzuleiten.
Unter Anwendung eines Triangulationsverfahrens wurde der Standort des schwimmenden Bratens ermittelt und das Jagdboot auf den Einsatz vorbereitet. Einmal mehr war es die Kirche, die ihren Einsatz verschlief. Denn die Walfänger durften auf keinen Fall in See stechen, bevor das Boot nicht vom diensthabenden Walpfarrer den kirchlichen Segen erhalten hatte.
John McGoberty, Walfänger
Wer hatte an diesem Tag Dienst? Ich werde keine Namen nennen: Man fand den Chef-Öler in den Armen einer Schönen und schleifte ihn unsanft zum Strand. Dank einer Express-Segnung gelang es den Ruderern, gerade noch im letzten Moment, die Fährte des Wals aufzunehmen.
Das Ruderjagdboot war besetzt mit einem Dutzend strammer Jungs, einem Beobachter und dem beamteten Walfänger John McGoberty. Denn es war nicht jedem gegeben und erlaubt, den Wal zu harpunieren. Auf Bequia werden die Wale nicht mit Kanonen geschossen, explodierende Harpunen sind nicht erlaubt, das Dynamit lässt man zu Hause. Und auch die 250-PS-Motoren kommen nicht zum Einsatz. Muskelarbeit ist angesagt, die Jagd hat noch einen Hauch von Ritterlichkeit.
Und so ruderten die Jungs stundenlang durch das aufgewühlte Meer und verfolgten den nichts ahnenden Wal. Kurz vor Sonnenuntergang schien die Gelegenheit günstig. Das Boot hatte sich dem Vieh so weit genähert, dass John seine Harpune zum Wurf ansetzen konnte. Und er traf! Was nun folgte, war ein Husarenritt par excellence! Denn auch Wale mögen es nicht, wenn man ihnen zu nahe tritt. Sie preschen los wie schwimmende Dampfwalzen, tauchen ab und treten mächtig in die Pedale. Die Harpune im Hintern, daran befestigt das selbst gedrehte Seil, ergriff der Wal die Flucht. Dabei zog er das Boot wild durch das Wasser, man raste durch die aufgewühlte See und war froh, dass das Seil lang genug war.
Nach einer Weile wird der grösste Wal schlaff. Und als er das nächste Mal zum Luftschnappen auftauchte, sprang ihm John direkt aus dem Kanu auf den Kopf. Behände nahm er Nadel und Faden aus dem mitgeführten Beutel und nähte dem verblüfften Wal den Mund zu. Nicht, dass John McGoberty Angst vor einem unangebrachten Kommentar des Wals gehabt hätte. Aber mit offenem Maul würde dieser zu viel Wasser schlucken und sich direkt in Neptuns Gärten zur ewigen Ruhe legen. Nun konnte man den schwimmenden Braten direkt unter das Boot binden und ruderte ihn, nicht ohne den entsprechenden Schlachtgesang intoniert zu haben, ans Ufer.
Schwimmende Kiefer
Die Helden der Jagd wurden von der gesamten Inselbevölkerung frenetisch begrüsst, der Kirchenchor setzte zu Lobgesängen an. Ein Vertreter der Kirche versprühte einen Hauch geweihtes Wasser aus einer alten Evian-Flasche. Bevor sich eine der tropisch vor sich hindösenden Fliegen entschliessen konnte, sich mal kurz am Braten zu laben, wurde dieser einigermassen kunstgerecht in handliche Stücke zerlegt und ehrlich und redlich an die Anwesenden verteilt.
Ich aber ging Haie gucken. Seit Monaten hatte ich mich auf die erste Begegnung mit den schwimmenden Kiefern vorbereitet. «Du darfst nicht wie ein Fischköder erscheinen. Vermeide das Tragen von glitzerndem Schmuck unter Wasser.» Dann werde ich wohl mein Diadem zu Hause lassen. «Trödle nicht herum und schwimme direkt zum Grund.» Ob das auch gilt, wenn die erste Bodenberührung erst bei siebenhundert Metern zu erwarten ist? «Nähert sich dir ein Hai und du hast eine Beute dabei, überlass sie ihm und verharre regungslos.» Welche Beute ist hier wohl gemeint? Eher mein Bein oder mein Arm? «Gummibekleidete Taucher, aus deren Kopf Blasen kommen, stehen nicht auf dem Speiseplan von Haien.» Danke für den Hinweis. Unter einem gummibekleideten Menschen stelle ich mir etwas anderes vor. Ich hoffe auch nicht, dass irgendwelche Blasen aus meinem Kopf blubbern werden. «Wirst du unter Wasser verwundet, beende sofort deinen Tauchgang und suche einen Arzt auf.» Ich stelle mir vor, wie ich meinen linken Arm in die rechte Hand nehme und nach einem Taxi rufe …
Mit meinem professionellen Begleiter lag ich inmitten einer öden Unterwasserwelt voller Steinkorallen – irgendwie erinnerte mich die Szenerie an einem Film von Luis Trenker. Ich fand diese Überlegungen sehr seltsam und machte mir Gedanken über eine mögliche Stickstoffvergiftung. Oh Gott! Ich wäre wohl der erste Taucher weltweit, der bereits in einer Wassertiefe von sieben Metern einen Tiefenrausch erleidet!
Als die Gruppe von Riffhaien in hohem Tempo an mir vorbeigerast war, ohne mich auch nur mit einer starren Wimper zur Kenntnis zu nehmen, war ich nicht nur enttäuscht, sondern ziemlich sauer. Nichts als eine Bande unhöflicher, aufgeblasener Fische mit vielen Zähnen im Gesicht! Viele Menschen halten ja Haie für dumme Fressmaschinen, die alles angreifen, was sich in ihrer Nähe befindet. Stimmt nicht. Nicht alles. Gegen einen Walfischkadaver hat ein Gummitaucher keine Chance!
Einige Zeit später. Auch die Gäste des Hotels konnten ihren Wal gucken. Sharys Leibkoch hatte das Vorderviertel in mundgerechte Portionen geschnitten und in einem mit Muskatnuss abgeschmeckten Tran-Süppchen gekocht. Begleitet wurde die megalomane Bouillabaisse von einem Brotfruchtmüesli und einem leckeren Tarosalätchen.
Es hat nicht allen geschmeckt.
In Zeiten, in denen an grosse Reisen nicht zu denken ist, erscheint in der «Volksstimme» in loser Folge eine siebenteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise in seine Vergangenheit.
Bequia
hpg. Bequia ist mit 18 Quadratkilometern die grösste Insel der Grenadinen und Teil des Staates St. Vincent und die Grenadinen. Der Name bedeutet Insel der Wolken in der Sprache der Arawak, der Urbevölkerung. Bequia liegt etwa 14 Kilometer südlich der Hauptinsel St. Vincent und etwa genauso weit nordwestlich von Mustique. Wir besuchten Bequia 1987.