Hier ging Walter Stürm keine Ostereier suchen
04.02.2021 Bezirk Waldenburg, NiederdorfDer legendäre «Ausbrecherkönig» beschaffte sich sein Werkzeug im Waldenburgertal
Er war im ganzen Land bekannt: Der kriminelle Walter Stürm, der achtmal aus Gefängnissen ausgebrochen ist. Weniger bekannt ist hingegen der Grund, warum Stürm immer wieder einen Handwerker in Niederdorf ...
Der legendäre «Ausbrecherkönig» beschaffte sich sein Werkzeug im Waldenburgertal
Er war im ganzen Land bekannt: Der kriminelle Walter Stürm, der achtmal aus Gefängnissen ausgebrochen ist. Weniger bekannt ist hingegen der Grund, warum Stürm immer wieder einen Handwerker in Niederdorf besuchte.
Elmar Gächter
Es ist in der Tat ein eindrückliches Palmarès, das den Lebenslauf des Sohnes einer reichen thurgauischen Industriellenfamilie «ziert». Bis zum «König» brachte er es, wenn auch in zwielichtiger Bedeutung. Mehrere Hundert Straftaten wurden ihm nachgewiesen: Diebstahl, Einbrüche, Bankraub, Beteiligung an einer misslungenen Geiselnahme. X-mal wurde Walter Stürm verhaftet, achtmal ist er aus Gefängnissen und Zuchthäusern ausgebrochen.
Stürm galt aber auch als Gentleman-Gangster, der bei Banküberfällen konsequent ohne Gewaltanwendung vorging und nur reiche Leute bestehlen würde. In der linken Szene wurde er wegen seines Freiheitsdrangs sogar als eigentlicher Robin Hood verehrt. Den Titel des Königs bekam Stürm in den 1970er- und 1980er-Jahren aber aufgrund seiner Ausbrüche. Legendär sein Ausbruch aus der Strafanstalt Regensdorf, als er einen Zettel in der Zelle zurückliess mit den Worten: «Bin beim Ostereiersuchen, Stürm.» 1999 hat sich der gelernte Karosseriespengler, dessen Liebe vor allem schnellen Autos galt, bei einer Isolationshaft mit einem Kehrichtsack das Leben genommen.
Kenner der Materie
Walter Stürm war, wenn man so will, ein eigentlicher Medienstar. Kaum ein Monat verging, an dem nicht über seine Taten berichtet wurde. Eine Episode aber fand keinen Eingang in die Welt der Zeitungsmacher: seine Beziehungen zu Niederdorf, dem baselbieterischen, nicht dem zürcherischen. Und diese Geschichte wäre wohl auch weiterhin einer grösseren Leserschaft verborgen geblieben, hätte sie nicht das vor Kurzem erschienene Heimatkundebuch von Niederdorf aufgegriffen.
Protagonistin in dieser Episode ist die Firma Walliser AG, jene elektrische Werkstatt an der Lampenbergerstrasse, deren Gründer Hans und Ruedi Walliser sich auf das Wickeln von Elektromotoren spezialisiert haben. Dort spielte sich in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre ganz Spezielles ab. Fredy Walliser, der heute den Betrieb führt, erinnert sich an die Erzählungen seines Vaters Hans:
«Es muss Anfang der 1970er-Jahre gewesen sein, als ein sehr gut gekleideter, adretter Mann vor der Türe unserer Werkstatt stand. Selbstsicher stellte er sich bei meinem Vater Hans als Maschinenbauer vor, ohne selbstverständlich seinen richtigen Namen zu nennen. Die beiden kamen ins Gespräch und nach und nach ins eigentliche Fachsimpeln. Mein Vater war beeindruckt von den technischen Kenntnissen des Besuchers. Zwar kam er ihm ein wenig grossspurig vor, aber durchaus als Kenner der Materie. Auf die Frage, was ihn, den Mann mit dem Thurgauer Dialekt, denn hierher führe, nahm Stürm eine Rolle sorgsam von ihm gezeichneter Pläne hervor. Sie beschrieben detailliert die Werkzeuge, mit deren Herstellung er unsere Firma beauftragen wollte. Sie zeigten rund 2 cm dicke und rund 50 cm lange Stahlrohre, ausgehöhlt, um einen eigentlichen Bart darüberzustülpen. Das Anspruchsvollste waren die dünnen Klingenmeisel, etwa gleich dick wie ein Schlüssel und vorne hohlgeschliffen wie ein Schlittschuh. Nie wäre bei meinem Vater auch nur der leiseste Verdacht entstanden, dass er damit einem Kriminellen zum optimalen Einbruchwerkzeug verhelfen würde.
Stürm hatte einen grossen Bedarf an diesen Artikeln. Immer wieder kam er in der drei- bis vierjährigen Geschäftsbeziehung vorbei, um Nachschub zu bestellen. Er war von der Qualität der Ware beeindruckt und brachte zwischendurch nur einmal den Wunsch an, das Werkzeug weniger stark zu härten, es etwas elastischer zu halten. Er zahlte stets bar und rundete auch höhere Beträge grosszügig auf. Zwar lagen die Aufträge ausserhalb des Produktebereiches der Walliser AG, aber mein Vater war stets an Neuem interessiert und durchaus auch stolz darauf, die Feinhandwerk erfordernden dünnen Klingelmeisel herzustellen.
Mein Vater hat gerne an Autos herumgeschraubt. Als Stürm wie stets mit einem Riesenschlitten in Niederdorf aufkreuzte, merkte mein Vater schnell, dass der BMW mit V-8-Motor nicht optimal lief. Mit wenigen Handgriffen sorgte er für Abhilfe und Stürm zeigte sich bei der Probefahrt den steilen Brunnenstieg nach Lampenberg hinauf begeistert.
Bis dann eines Tages ganz überraschend und auch ein wenig Angst einflössend die Polizei in der Werkstand stand. Vor dem Haus das Polizeifahrzeug mit Stürm im Fonds. Es war naheliegend, dass die Obrigkeit vermutete, mein Vater könnte in die Verbrechen von Stürm involviert sein. Er übergab den Polizisten die sorgsam gezeichneten Werkzeugpläne, konnte jedoch glaubhaft darlegen, dass er in keiner Art und Weise von den Machenschaften seines Kunden Kenntnis hatte.
Meinem Vater ging die Tatsache, dass er einem Kriminellen aufgesessen ist, lange nach. Erst viel später hat er begonnen, die Geschichte zu erzählen. Nie jedoch kam ein schlechtes Wort über Walter Stürm über die Lippen. Er meinte nur: ‹Hätte der Stürm ehrlich gearbeitet, er hätte es weit gebracht.›»
Hans Walliser ist 2017 98-jährig gestorben.
Neuer Film zu Walter Stürm
emg. Sobald es die Pandemie-Vorschriften ermöglichen, soll der Film «Bis wir tot sind oder frei» in den Kinos anlaufen. Im Vordergrund steht dabei die Beziehung zwischen Walter Stürm und seiner Anwältin Barbara Hug. Die Hauptrollen spielen Joel Basmann und Marie Leuenberger.