Vagabunden wider Willen
31.12.2020 RatgeberBuchtipp | «Der Salzpfad» von Raynor Winn
Raynor Winn und ihr Ehemann Moth verlieren in einem Rechtsstreit ihre Farm, und dann wird bei Moth auch noch eine unheilbare Nervenkrankheit festgestellt. Statt zu verzweifeln, begibt sich das Ehepaar auf eine ...
Buchtipp | «Der Salzpfad» von Raynor Winn
Raynor Winn und ihr Ehemann Moth verlieren in einem Rechtsstreit ihre Farm, und dann wird bei Moth auch noch eine unheilbare Nervenkrankheit festgestellt. Statt zu verzweifeln, begibt sich das Ehepaar auf eine Wanderung entlang des South West Coast Paths.
Yvonne Zollinger
Es gibt viele Gründe, eine lange Wanderung zu beginnen. Bei Raynor und Moth sind es die denkbar tragischsten. Ein Investment war schiefgegangen und ein Mensch, den die beiden Fünfzigjährigen für einen Freund gehalten hatten, hat sich unbarmherzig gezeigt. Den Prozess gegen ihn haben die Winns wegen eines Formfehlers verloren. Und als entschieden war, dass ihr altes Leben zerstört werden würde, zu dem eine Farm in Wales und ein kleiner Ferienbetrieb gehörten, bekam Moth die Diagnose: kortikobasale Degeneration. Eine unheilbare Nervenerkrankung, die langsam fortschreitend zum Tod führt.
Auf die traumatischen Ereignisse folgte die Erkenntnis, dass sie als Sozialhilfeempfänger keine Wohnung mehr finden würden und sich wegen Moths Erkrankung auch keine berufliche Existenz mehr aufbauen konnten. Wie im Nebel hätten sie diese ersten Wochen nach der Diagnose und dem Wegzug von der Farm erlebt, schreibt Raynor Winn in ihrem ehrlichen und berührenden, aber nie Mitleid heischenden Buch «Der Salzpfad».
50 Pfund pro Woche
Weniger als 50 Pfund pro Woche waren alles, was dem Ehepaar blieb. In der Nähe der Farm wollten sie nicht mehr sein. Zu schmerzhaft war der Anblick der geliebten Felder und Wiesen. Einen Zufluchtsort konnten ihnen weder die Kinder, die sich noch in Ausbildung befanden, noch Freunde oder Verwandte auf längere Zeit bieten. In dieser Notsituation fiel der Entschluss, auf eine lange Wanderung zu gehen und sich über die Zukunft Gedanken zu machen.
Das Ziel von Raynor und Moth Winn war der South West Coast Path, der längste Küstenwanderweg Grossbritanniens. Er führt auf rund 1000 Kilometern und 35 000 Höhenmetern von Somerset über Devon und Cornwall nach Dorset. Mit Rucksack und einem kleinen Zelt ausgerüstet machte sich das Ehepaar auf den Weg. Weil sie sich keinen Campingplatz leisten konnten, stellten sie ihr Zelt am Wegrand auf. Oft auch heimlich auf der Wiese eines Hofs oder mitten auf dem Pfad. Sonnenaufgänge und -untergänge, Baden im Meer bei Mondschein, reife Brombeeren, gewürzt von der salzigen Luft, nächtliche Begegnungen mit Dachsen und Hirschen. Und mit anderen Wanderern, die meist in Eile waren, weil sie für den Pfad nur wenige Tage ihrer Ferien opferten.
Am Rand der Gesellschaft
Die Winns bewegten sich mitten unter Ausflüglern, Strandbesuchern und Feriengästen der Küstenorte, aber sie gehörten nicht dazu. Das Schicksal hatte sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie waren Vagabunden wider Willen. Ihr Blick auf das Ferientreiben der englischen Küstenorte war der von Mittel- und Heimatlosen. Die knapp 50 Pfund pro Woche erlaubten nicht die geringste Annehmlichkeit. Auf die vollen Teller der Touristen in den Restaurants konnten sie nur begehrlich schielen. Oft reichte das Geld gerade noch, um sich mit billiger Schokolade den ärgsten Hunger zu vertreiben.
Raynor Winn beschreibt die oft niederschmetternden Erfahrungen ihrer Wanderung, ohne in Selbstmitleid zu versinken. Die Kraft, trotz allem durchzuhalten schöpften sie und ihr Mann aus der Liebe zueinander und zur Natur. Beides verhalf ihnen am Schluss zu einem neuen Zuhause. Dort, wo sie es am wenigsten erwartet hatten.
«Der Salzpfad», Raynor Winn, Dumont, 2019.