Ein Dorf regieren?
29.10.2020 PolitikZum Start der neuen Legislatur hatte die «Volksstimme» am 30. Juni die Oberbaselbieter Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten abgebildet mit dem Titel «Wer regiert welches Dorf». Als frischgewählter Gemeindepräsident ist mir dieser Titel wohl ...
Zum Start der neuen Legislatur hatte die «Volksstimme» am 30. Juni die Oberbaselbieter Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten abgebildet mit dem Titel «Wer regiert welches Dorf». Als frischgewählter Gemeindepräsident ist mir dieser Titel wohl etwas stärker ins Auge gesprungen als anderen Lesern, und ich musste schmunzeln über die Wortwahl – diesen Aspekt hatte ich bei meinem Entscheid, mich für das Amt zur Verfügung zu stellen, nie bedacht. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Gemeinderat betrachte ich es vielmehr als Dienst an der Allgemeinheit, nach dem Motto «Jemand muss es ja machen».
Neben dem Artikel haben mich aber auch die Reaktionen im Dorf und aus dem privaten Umfeld zum Nachdenken angeregt. Ich spüre bei vielen eine hohe Achtung, Wertschätzung und Bewunderung für dieses politische Amt. Normalerweise pflege ich das zu relativieren mit der Bemerkung, dass in unserem 700-Seelen-Dorf die Politik keine grosse Rolle spiele. Steckt da doch mehr dahinter? Regieren ist gemäss einer kurzen Internetrecherche mit Begriffen wie «beherrschen», «Macht haben» oder gar «(Regierungs-)Gewalt innehaben» umschrieben. Mein Alltag als Gemeindepräsident ist davon weit entfernt. Im Gegenteil, oft fühlt man sich angesichts der zahlreichen Aufgaben und Problemstellungen eher hilflos als machtvoll. Man ist froh, wenn man wenigstens das kurzfristige Tagesgeschäft beherrscht. Dieses ist, gerade in einer kleinen Gemeinde, wo ohne grosse Verwaltung vieles beim Gemeinderat hängen bleibt, sehr breit gefächert. Und als Präsident hat die Aufgabenvielfalt zugenommen. Während ich mich früher auf mein Ressort fokussieren und meinen Aufwand begrenzen konnte, gilt es nun, alle Aspekte im Auge zu behalten, den Gemeinderat und letztlich die Gemeinde zu führen. Das beansprucht mehr Zeit, ist aber auch spannend und interessant. Ich laufe heute mit anderen Augen durch das Dorf und fühle eine Verantwortung für das Dorfleben. Wie soll es mit dem fehlenden Fussgängerstreifen weitergehen? Wie läuft die Baustelle? Welche Anlässe können wir im Zeitalter von Corona noch durchführen? Wie können wir das Dorf freundlicher gestalten, mehr Begegnungsräume schaffen?
Das bringt mich wieder näher zum Bild eines Präsidenten, der beim Herrschen auch vorausschauen sollte, wie dies der franzö- sische Publizist und Politiker Émile de Giradin im 19. Jahrhundert treffend auf den Punkt gebracht hat: «Gouverner, c’est prévoir» – Regieren heisst voraussehen. Ich wurde auch schon gefragt, was denn meine Vision für die Gemeinde sei. Ehrlicherweise kann ich auch nach über 100 Tagen im Amt dazu noch keine befriedigende Antwort liefern, zu stark war ich im Tagesgeschäft mit dem neuen Gemeinderat beschäftigt. Doch in der Politik haben wir den Vorteil, dass die Legislaturperiode auch Zeit für langfristige Ziele lässt. Und vor allem darf ich auf die Unterstützung meiner Gemeinderatskollegen (leider sind aktuell keine Frauen dabei), der Verwaltung und der Bevölkerung zählen – zusammen beleben wir das Dorf! Damit ist der Grundstein für die Vision gelegt.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.