«Emotional wäre eine Absage eine Tragödie»
21.07.2020 SportSebastian Wirz
Herr Senn, wie organisiert man einen Anlass im kommenden Jahr, wenn schon die Regeln für Veranstaltungen im kommenden Monat nicht absehbar sind?
Emanuel Senn: Zu Beginn hatte das Coronavirus sogar einen positiven Einfluss auf unsere ...
Sebastian Wirz
Herr Senn, wie organisiert man einen Anlass im kommenden Jahr, wenn schon die Regeln für Veranstaltungen im kommenden Monat nicht absehbar sind?
Emanuel Senn: Zu Beginn hatte das Coronavirus sogar einen positiven Einfluss auf unsere Vorbereitungsarbeiten: Viele OK-Mitglieder hatten mehr Zeit, sich um die EM zu kümmern, weil sie im Job weniger zu tun hatten. Auf mich als Physiotherapeuten trifft das auch zu. Aber als klar wurde, dass es sich bei der Pandemie nicht um einen «churzen Chutt» handelt, war die Durchführung der EM plötzlich in Frage gestellt.
Sie sind zuversichtlich, dass die EM stattfinden kann. Sicher ist dies jedoch nicht. Wie reagieren Sie auf diese Situation?
Wir haben verschiedene Szenarien erarbeitet: Bis wann müssen wir was entscheiden? Welche Massnahmen können wir ergreifen, falls Corona im April kommenden Jahres noch ein einflussreiches Thema ist? Gibt es Erlasse bei der Hallenmiete, falls weniger oder keine Zuschauer zugelassen werden können? Vor allem mussten wir einen «Point of no Return» definieren: Den Punkt, an dem wir aus finanziellen oder anderen Gründen die Kunstturm-EM absagen müssten.
Welche Schutzmassnahmen könnten Sie denn noch akzeptieren, ohne dass der Anlass in Gefahr gerät?
Neben 270 Athleten, 125 Kampfrichtern und 300 Offiziellen planen wir mit 5900 Zuschauern pro Wettkampftag. Gelten bis dann immer noch Einschränkungen, müssten wir mit abgeschlossenen Sektoren, separaten Eingängen und Verpflegungszonen reagieren. Wir erarbeiten verschiedene Szenarien, wie und wie viele Zuschauer wir unter welchen Umständen zulassen könnten. Den ganzen Anlass ohne Zuschauer durchzuführen, ist keine Option. Aktuell kann es schnell in jede Richtung kippen. Die Unsicherheit ist zwar gross, aber alle im OK behalten den Fokus. Das ist sehr motivierend. Finanziell wären wir in der Lage, die EM abzusagen. Emotional wäre es aber eine Tragödie.
Können Sie die EM wie geplant durchführen, hatte die Pandemie für Sie gar positive Auswirkungen: Durch die Verschiebung der Olympischen Spiele ins kommende Jahr wird die EM für jeden Turner plötzlich zu einem wichtigen Vorbereitungswettkampf.
In meinen Augen hat Olympia 2020 durch die Verschiebung und die weiterhin bestehenden Unsicherheiten an Wert verloren. Unsere EM hat derweil deutlich an Bedeutung gewonnen. Endet ein olympischer Zyklus, tritt bei einigen Nationen im Folgejahr die junge, neue Garde an, die sich für die kommenden Spiele aufdrängen will. Die Stars machen teilweise Pause. Bei uns wird es anders sein: In Basel werden sich die Besten der Besten unseres Kontinents messen und klar machen, mit wem in Tokio zu rechnen ist.
Beim Nordwestschweizerischen Kunstturnund Trampolinzentrum (NKL) sind Sie ebenfalls für die Organisation von Wettkämpfen zuständig. Lässt sich die Organisation des Geschehens auf dem «Field of Play» mit jenem am internationalen Grossanlass vergleichen?
Rein wettkampftechnisch muss ich in Liestal vom Zeitplan bis zu den Kampfrichtern und so weiter sogar mehr organisieren – ich befinde mich bei der EM in einem engen Korsett: Es gibt ein Drehbuch, das fast auf die Sekunde genau durchgetaktet ist. Denn das Fernsehen bestimmt: Wir haben 90 Minuten Zeit, da muss alles reinpassen. Wie lange pro Athlet zum Einturnen bleibt, wie lange er für die Übung hat, wie lange, bis er das «Field of Play» verlässt – das ist alles gefixt. Ich empfinde dieses Korsett aber als angenehm, es gibt eine klare Struktur vor, in der ich planen kann.
Was können Sie denn da selbst noch beeinflussen?
Wir wollen den Athleten ein Erlebnis verschaffen. Von den grösseren Wettkämpfen wie den Schweizermeisterschaften, an denen ich selber teilnahm, bleiben mir nicht primär die Minuten an den Geräten in Erinnerung. Der Einmarsch in die Halle, die Unterstützung der Zuschauer, die Rangverkündigung – diese Dinge sind für mich unvergesslich. Dafür, dass sie es auch für die Turner an der EM sind, investieren wir viel. Die 18 Meter lange und 6 Meter hohe LED-Wand, das Gefühl, dass die ganze Halle dunkel ist und nur ein Athlet im Spotlight beleuchtet wird – das werden sie nicht vergessen.
Das Kunstturnen kommt aus der Turnerbewegung: Männer in weissen Kleidern, die ihren Körper für das Vaterland stählen. Danach war es kalter Krieg in sportlichem Gewand – West gegen Ost. Ist der Sport heute nur noch Show?
Nicht nur. Es geht um unglaubliche sportliche Höchstleistungen, die sich in der Wertung niederschlagen. Aber ja, die Wettkämpfe haben sich zu Events entwickelt, und das ist gut so. Auch die Turner haben sich entwickelt. Sehen Sie sich die internationalen Meisterschaften an: Turner und Trainer liegen sich in den Armen, Sieger weinen vor Glück, Verlierer vor Enttäuschung. Ein japanischer Turner, der ausgelassen jubelt – das hat es früher nie gegeben. Das wollen wir gebührend inszenieren.
Am Ende ist es aber nicht der Turner, der sich diese aufwendige Präsentation zu Gemüte führen kann.
Ja, wir machen das auch für die Zuschauer. Die EM soll eine nachhaltige Wirkung haben. Wir wollen das Feuer entfachen. Der fünfjährige Jugi-Turner und die Mädchenriegeturnerin sollen die Show sehen und denken: «Das will ich auch.» Die Eltern sollen die Begeisterung ihres Nachwuchses mit dem Spektakel vor Augen verstehen. Der Kunstturnsport in der Schweiz soll an diesem Event wachsen. Er profitiert auch davon, dass wir einige der 42 Geräte, die wir beschaffen müssen, nach dem Anlass zu guten Konditionen an Sporthallenprojekte etwa in Magglingen und Tenero abgeben. Andere werden wir nur mieten. Auf die Region bezogen erhoffe ich mir ebenfalls eine nachhaltige Wirkung: Das NKL soll durch die EM einen neuen Drive erhalten.
Die Reihen der regionalen Leistungsturner sind dünner als noch vor zehn Jahren oder zu Ihrer Zeit. Warum?
Ja, es sind deutlich weniger Kunstturnerinnen und Kunstturner da. Dafür dünkt es mich, dass diejenigen Turner, die aktuell leistungsmässig im NKL trainieren, das noch intensiver und zielgerichteter machen als wir damals. Dass wir nicht mehr die frühere Breite aufweisen können, hat wohl mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun: Das, was es braucht, um leistungsmässig turnen zu können, sind weniger Kinder und Eltern gewillt zu investieren.
Hat diese Krise nicht auch mit dem Image des Kunstturnens zu tun? Grässliche Missbrauchsfälle in den USA, Klagen gegen die Trainerinnen des Schweizer Nationalkaders in der Rhythmischen Sportgymnastik und Streitigkeiten in der Führung des Schweizerischen Turnverbands prägen die Schlagzeilen.
Auf die Europameisterschaft könnte das bei der Sponsorensuche Auswirkungen haben. Beim NKL sehe ich dieses Problem weniger. Wir betreiben schon lange so viel Prävention wie möglich. Die Eltern können Trainings besuchen, Ethik und der verbale Umgang miteinander wird im Gespräch mit Trainern sowie Turnern immer wieder thematisiert und keine erwachsene Person hat bei uns zum Beispiel je etwas in den Garderoben zu suchen. Das NKL ist zudem vorbereitet, wie zu reagieren ist, wenn es einmal einen Vorfall geben sollte. Die alte militärische Schule hat im Turnsport je länger je weniger zu suchen. Es wird mehr Rücksicht genommen, das Training ist individueller geworden. Zudem wird die Mitsprache der Turnerinnen und Turner in gewissen Phasen gefördert. In anderen Phasen muss der Trainer mehr leiten, um vorwärtszukommen.
Dennoch hält sich etwa das Bild des Trainers, der einen jungen Turner in den Spagat drückt, bis die Beine flach am Boden liegen. Die Vorwürfe, die Trainerinnen der Rhythmischen Sportgymnastik hätten Verletzungen von Turnerinnen nicht ernst genommen und sie gezwungen, weiter zu trainieren, helfen nicht, solche Bilder aus der öffentlichen Wahrnehmung zu tilgen.
Die Vorwürfe sind schockierend. Egal, ob sie zutreffen oder nicht: Bei den extremen körperlichen Positionen, die in der rhythmischen Sportgymnastik alltäglich sind, mache ich als Nicht-Experte ein Fragezeichen dahinter, ob internationaler Erfolg in dieser Sportart unter der Einhaltung unserer Ethik-Charta möglich ist. Sicher nur für junge Frauen, deren Körper ideal für diese Disziplin geschaffen ist, und auch dann nur mit extremem Training. Beim Kunstturnen, wo ich tiefen Einblick habe, ist das in meinen Augen anders. Ja, der Spagat ist Grundvoraussetzung für diverse Elemente und ja, das Üben ist zeitweise schmerzhaft – das macht niemand gerne. Aber kann ich ihn nicht, drohen bei diversen Bewegungen an mehreren Geräten Verletzungen. Als Leiter Leistungssport am NKL muss ich Kindern und Eltern klar machen, dass Leistungssport kein Gesundheitssport ist. Aber ich bin völlig überzeugt: Wenn der Wunsch des Kindes vorhanden ist, Leistungssport zu betreiben, die Eltern bereit sind, den nötigen Support zu leisten, und wir vom NKL unsere Arbeit sauber machen, habe ich null Bedenken, dass das Kind vom Kunstturnen profitieren wird. Es ist und bleibt eine Lebensschule.
NKL nähert sich der 10 000-Franken-Marke
wis. «Die Spendenaktion ist gut angelaufen», sagt Thomas Rutishauser. Es gebe zwar noch viel zu tun, aber das Nordwestschweizerische Kunstturnund Trampolinzentrum (NKL) habe mit der Aktion «#zämeschaffemirdrspagat» schon beinahe 10 000 Franken gesammelt. «Die positive Aufnahme der Aktion hat uns sehr gefreut und ich bin überzeugt, dass nach den Schulsommerferien eine positive Fortsetzung folgen wird», sagt der Geschäftsführer auf Anfrage. Das NKL ist auf Geldsuche, weil wegen Corona mehrere Anlässe und Angebote nicht durchgeführt werden konnten, was Mindereinnahmen von fast 100 000 Franken bedeutete.
Zur Person
wis. Emanuel Senn (37) ist in Liestal aufgewachsen. In jungem Alter begann das Mitglied des SV Lausen mit dem Kunstturnen am Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrum (NKL). Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen waren seine Eltern nicht selber Kunstturner – dafür amtete Vater Edgar Senn, der über seinen Sohn zum NKL fand, später 21 Jahre lang als Präsident des Leistungszentrums. Im NKL ist der gelernte Physiotherapeut und Mitinhaber einer Praxis für die Organisation von Wettkämpfen zuständig und als Leiter Leistungssport für die besten Turnerinnen und Turner verantwortlich. Im OK der Kunstturn-Europameisterschaft 2021 (21. bis 25. April) in Basel kümmert er sich als einziger mit Kunstturn-Erfahrung um den Wettkampf und die Infrastruktur in der St. Jakobshalle.