Es geschah vor 44 Jahren - viele Rätsel sind geblieben
05.06.2020 Polizei, RegionDer «Mordfall Seewen» gilt als grösstes ungeklärtes Verbrechen der Schweiz. Willi Erzberger war der erste Journalist vor Ort
Am 5. Juni 1976 wurden im nahen Seewen (SO) fünf Menschen ermordet. Wer war der Täter? War es eine Hinrichtung? Was war das Motiv? Die Tat beschäftigte die ...
Der «Mordfall Seewen» gilt als grösstes ungeklärtes Verbrechen der Schweiz. Willi Erzberger war der erste Journalist vor Ort
Am 5. Juni 1976 wurden im nahen Seewen (SO) fünf Menschen ermordet. Wer war der Täter? War es eine Hinrichtung? Was war das Motiv? Die Tat beschäftigte die Öffentlichkeit während Jahrzehnten. Der Basler Journalist Willi Erzberger eilte für die «National-Zeitung» damals sofort an den Tatort. Der Fall hat ihn seither nie mehr losgelassen. Heute rekapituliert er.
Willi Erzberger
Pfingstsamstag, 5. Juni 1976. Auf den Tag genau heute vor 44 Jahren!
Nach einer Regenphase endlich wieder wärmende Sonnenstrahlen. Das vorsommerliche Wetter steigert die Vorfreude auf die zwei bevorstehenden Festtage. Die friedliche Stimmung im Naherholungs- und Wandergebiet Banwald oberhalb von Seewen wird auch an diesem Wochenende von gelegentlichem Schiesslärm durchdrungen. Sportschützen und Waffennarren üben an Wochenenden mit ihren Gewehren und Pistolen im nahe gelegenen Schützenstand Büren oder in einer der vielen umliegenden Kiesgruben oder Abfalldeponien. Die am Rand der Wanderzone wohnenden Nutzer von Wochenendwohnungen haben wegen des «Rumballerns» die Erholungszone schon vor Jahren zum «Wildwestgebiet» umbenannt.
High Noon
Ein Blitz aus heiterem Himmel zertrümmerte am Pfingstsonntag kurz vor 12 Uhr brutal die harmonisch-festliche Stimmung und beförderte das beschauliche Bauerndorf schon bald weltweit zum Schweizer Mörderdorf.
Noch war die Nachrichtenübermittlung auch nicht annähernd auf dem jetzigen Stand. Kommuniziert wurde telefonisch oder per Telex. Die hartnäckigsten Reporter informierten sich über Polizeifunk. Entsprechende Empfangsapparate konnten zu Beginn einer neuen Übermittlungsentwicklung für einen stolzen Preis frei im Spezialhandel erworben werden. Die Technik war noch nicht so weit, um den polizeilichen Funkverkehr zu sperren.
«Tötungsdelikt in Seewen», so die erste knappe Meldung am Polizeifunk. Wenig später: «Mehrere Tote».
Tatort: Die vom Besitzer Eugen Siegrist in den Sechzigerjahren selber, aber illegal erbaute Holzhütte «Waldeggli» hoch oben im Bannholz neben dem Wanderweg nach Hochwald. Die Tatopfer: Eugen Siegrist (63), seine Frau Elsa (62), Eugens Schwester Anna Westhäuser (80) und ihre Söhne Emanuel (52) und Max (49).
Nach Berichten der polizeilichen Ermittlungsbehörden sind sie durch gezielte Kopfschüsse aus ein und derselben Waffe vor der Hütte umgebracht worden.
Die in Basel wohnende Tochter des Ehepaars und ihr Freund waren besorgt, weil ihre Eltern am Sonntagmorgen telefonisch nicht erreichbar waren.Auch in ihrer Basler Wohnung im Gotthelfquartier war niemand anzutreffen. Angsterfüllt fuhren sie nach Seewen, wo sich schnell herausstellte, dass beim «Waldeggli» etwas nicht stimmte. Die kleine Parkfläche für das Auto des Vaters war leer. Vor dem verschlossenen Eingang der Hütte eine grosse Blutlache, zwei Patronenhülsen am Boden und eine Teppichrolle mit seltsamen Konturen auf dem Vorplatz.
Entsetzen, Besorgnis und Angst, weil die Tochter wusste, dass sich ihre Eltern am Samstagnachmittag mit den Westhäusers zu einem Jass treffen wollten. Die in Reinach wohnenden Verwandten verbrachten ihre Wochenenden öfters in ihrem Ferienhaus am Dorfrand von Hochwald, 800 Meter Fussweg entfernt.
Nach den schockierenden Entdeckungen rannte das Paar zur nächsten Liegenschaft und alarmierte um 11.45 Uhr telefonisch den Polizeiposten Dornach. Unverzüglich wurden zwei Beamte zu ersten Feststellungen aufgeboten. Eine Viertelstunde später die schreckliche Gewissheit, dass mehrere Menschen getötet wurden.
Jetzt kam auch Bewegung in die Fahndungsabteilung der Kapo Solothurn. Nach dem Auftauchen zahlreicher Polizeifahrzeuge veränderte sich die Stimmung im beschaulichen Bauerndorf abrupt. Die Nachricht von mehreren Tötungen verbreitete sich in Windeseile. «High Noon» in Seewen. Unheimlich, weil im wahrsten Sinne des Wortes!
Die aus Solothurn angereisten Kriminalisten beschlagnahmten wenig später die «Sonne» und richteten dort ihren Kommandoposten ein.Von dem Moment an war es im Dorf auch Jahre später niemals mehr so wie vorher. Monatelang arbeiteten sich bis zu 20 Beamte in diesem Not-Aussenbüro erfolglos ab. Gewässer wurden untersucht, ein Bauernhof demontiert, von Denunzianten gemeldete Waffennarren überprüft und vieles andere mehr.
Der Zufall verhinderte eine schnellere Entdeckung des schlimmsten Schweizer Massenmordes. Der Autor traf bei seinen Recherchen am Pfingstsonntag auf einen etwa 40-jährigen Mann, der am Pfingstsamstag um 18 Uhr mit den Siegrists verabredet war. Er sollte am «Waldeggli» eine Dachrinne reparieren. Begleitet von seinem sechsjährigen Sohn wollte er sich auf den Weg machen, verschob den Termin dann wegen eines anderen Botengangs in letzter Minute auf einen anderen Tag. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Vater und Sohn bei ihrem Besuch plötzlich dem Mörder gegenübergestanden hätten.
«Die Westhäusers sind bei mir vorbeispaziert und wenig später hörte ich einen Schrei.» So äusserte sich eine verängstigte Frau 24 Stunden nach der Tat gegenüber der «National-Zeitung». Sie erinnerte sich «an einen grossen schlanken Mann mit einem grossen Hut, der am Samstag vor dem Haus der Westhäusers herumgestikuliert hat». Wie viele andere Anwohner wollte auch sie sich vermutlich aus Angst an nichts mehr erinnern.
Winchester, Kaliber 38
Nach ersten Tests mit den zwei aufgefundenen Patronenhülsen legte sich der Solothurner Erkennungsdienst 78 Stunden und nach einer überkantonalen zweistündigen Sitzung in der «Sonne» mit dem Untersuchungsstab öffentlich fest: Bei der Tatwaffe handelt es sich vermutlich um die Originalausführung oder eine Nachbildung eines Unterhebel-Repetiergewehrs oder Karabiners Modell Winchester, Kaliber 38, oder 357 Magnum 1866, 1873, 1892 oder 1894.
Standortwechsel nach Hölstein. Ebenfalls am Pfingstsonntag richteten sich Robert Siegrist mit Freundin (und jetzigen Frau) Anita auf einen gemütlichen Abend ein. Das Liebespaar nutzte die Gelegenheit ab Freitag für einen verlängerten Wochenendaufenthalt im Haus von Anitas Eltern. Diese waren für die Feiertage zu Verwandten in die Innerschweiz verreist. Am Abend des Mordtages vergnügten sie sich im Basler Kleintheater «Fauteuil» an einer Emil-Aufführung. Kurz nach 16 Uhr des folgenden Tages veränderte sich das Leben des jungen Paares auf brutale Weise.
Ein unheimliches Klopfen und Poltern versetzten Robert und Anita in Todesängste; sie fühlten sich von Einbrechern bedroht. Die Verursacher entpuppten sich nach der Türöffnung als zivil gekleidete Polizisten, von denen einer mit gezogener und scharf geladener Waffe Robert Siegrist in Schach hielt. Dieser wurde wortlos von seiner Freundin getrennt, die nach Sissach zur Alibiüberprüfung in U-Haft überführt wurde, während er in eine der Zellen im damaligen Polizeiposten Liestal in der Amtshausgasse «begleitet» wurde. Fragen nach dem Warum wurden nicht beantwortet. Der Haftbefehl wurde um 18 Uhr erstellt.
Jahrelang Hauptverdächtiger
Der wenige Wochen vor der Tat zum Solothurner Kripochef beförderte Hans Rüttimann befragte als Erster den ahnungslosen Robert Siegrist in den Räumen des Untersuchungsrichteramts. Es war sein erster grosser Kriminalfall. Im temporären Aussenbüro in der «Sonne» ermittelten seine zeitweise 20 eingesetzten Mitarbeiter über ein halbes Jahr und rollten den Fall nach vielen Wochen und entsprechenden Ermüdungs- und Demotivationserscheinungen gegen Jahresende erneut von vorne auf. Der Solothurner Grosse Rat musste dafür einen Nachtragskredit von 100 000 Franken genehmigen.
Polizeikommissär und Fahndungsleiter Max Jäggi setzte sich von Anfang an bei jeder Gelegenheit gern in Szene. Auch nach seiner Pensionierung forschte er weiter. Nachfragen der Medien beantwortete er meistens mit seinem Standardspruch: «Mir hei gäng es Holz im Füür.» Robert Siegrist wurde erst am Dienstag nach Pfingsten wieder in die Freiheit entlassen, aber noch jahrelang als Hauptverdächtiger überwacht und befragt. Die Abläufe, Erlebnisse und Empfindungen schilderte er in seinem vor 19 Jahren im Opinion Verlag erschienenen Buch «Der Mordfall Seewen – erzählt vom Sohn der Opfer».
Der Sissacher Rolf B.* ist immer noch verärgert, dass die aus seiner Sicht wichtigen Wahrnehmungen am Tattag von der Polizei nicht ernst genommen wurden. Er ist sich sicher, dass um die Mittagszeit oberhalb des «Grümpelloch» in Büren ein grüner Opel Ascona mit Basler Nummer an ihm vorbeifuhr. Sein sich in der Nähe befindlicher Schwager sah dort erstaunt, dass ein ihm unbekannter Mann mit einer abgesägten Winchester herumschoss und sich versteckte, wenn sich jemand näherte. Das geschah beides innerhalb einer Viertelstunde.
An den Tagen zuvor habe ihm sein Schwager erklärt, dass im «Grümpelloch» bei Büren ein unbekannter Mann mehrfach bei Schiessübungen mit einer abgesägten Winchester gesehen worden sei. Die in einer unübersichtlichen Talsenke oberhalb von Bretzwil angelegte einstige Abfalldeponie wurde damals öfter als Schiessplatz genutzt. Nach der Umgestaltung in eine Grünfläche ist das Areal jetzt unter der Bezeichnung «Wäsch» bekannt.
Rolf B. und sein Schwager unterrichteten die Polizei von ihren Beobachtungen. Einziger Insasse im Siegrist-Auto: «Ein südländischer Typ. Mit Sicherheit nicht der 20 Jahr später als Haupttäter vermutete Carl Doser.» Siegrists Auto, ein grüner Opel Ascona mit schwarzem Dach und Nummernschild BS 28 151, mit dem sich der Täter davongemacht hat, wurde nach einer überkantonalen Grossfahndung noch am Sonntagabend in der Gegend «Teufelsgraben» zwischen Muttenz und Münchenstein aufgefunden.
Nach Feststellung der Wohnsituation der fünf Mordopfer wurde schnell erkannt, dass die Ermittlungsarbeit sehr schwierig und kompliziert werden könnte, weil mit Solothurn, Basel-Stadt und Baselland drei Kantone involviert waren. Ein Polizeikonkordat existierte damals noch nicht. Die einzigen Mord-Profis vom wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich wurden lediglich zur Spurensicherung angefordert. Rolf B. erinnert sich noch heute mit Unmut an eine burschikose Bemerkung des eifrigen Max Jäggi: «In der Gegend fahren viele grüne Opel Ascona mit schwarzem Dach herum.» Das «Grümpelloch» wurde spurentechnisch nie untersucht.
Gigantische Negativ-Bilanz
Das Gesamtergebnis der jahrelangen erfolglosen Ermittlungen und der damals wohl aufwendigsten Fahndungsaktion der Schweizer Kriminalgeschichte: 9400 Personen einvernommen, rund 3000 Besitzer von Winchester-Gewehren zum Waffentest vorgeladen. Das führte zur gesicherten Erkenntnis, dass alle 13 Schüsse aus der gleichen Waffe abgefeuert worden waren. Es wurden Dutzende von Hausdurchsuchungen veranlasst, 27 Tatverdächtigte einvernommen, 9 Personen in U-Haft genommen (dabei nach Dorfgerüchten auch der Präsident einer umliegenden Gemeinde), 1500 Quadratmeter Land rund um den Tatort akribisch untersucht.
Den beigezogenen Spurensicherern der Stadtpolizei Zürich standen als Vergleich neun aufgefundene Patronenhülsen und acht Projektile zur Verfügung. Gefahndet wurde international, auch das FBI wurde 20 Jahre später eingeschaltet. Anlässlich einer Hausdurchsuchung in Reinach bei Anna Westhäuser wurden Bilder von Adolf Hitler und anderen Nazis aufgefunden. Ebenfalls in dieser Richtung wurde ermittelt. Auch Okkultisten und Wahrsager wurden angehört, sogar eine mafiöse Abrechnung wurde nicht ausgeschlossen und noch vieles andere mehr. «Blick» und «Schweizer Illustrierte» hielten die Geschichte stets am Kochen.
20 Jahre später: Der 9424. Hinweis führte endlich zur Tatwaffe. Am 2. September 1996 wurde anlässlich einer Wohnungserneuerung nach einem Mieterwechsel am Ritterweg 1 in Olten (nähe Stadtpark) von einem Handwerker in einer Nische hinter der alten Einbauküche eine Handfeuerwaffe Modell Winchester mit einem abgesägten Lauf entdeckt. Auch zwei Packungen Munition, Kaliber 38, eine Sehbrille, ein abgelaufener Pass lautend auf den Namen Carl Doser, verschiedene andere Dokumente, dazu Briefmarken von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin.
Internationale Fahndung
In der Wohnung lebte bis zu ihrem Tod am 8. September 1980 eine Frau Doser und zeitweise auch ihr Sohn Carl. Die wissenschaftliche Überprüfung führte zur Gewissheit: Es war die jahrelang gesuchte Tatwaffe. Diese Erkenntnis löste eine internationale Suche nach dem spurlos verschwundenen Carl Doser aus, wobei auch das FBI eingeschaltet wurde.
Der Waffenbesitzer hatte sich am 20. März 1972 beim Einwohneramt in Basel-Stadt angemeldet und im Kleinbasel sich in einem Einzelzimmer der Liegenschaft Florastrasse 16 eingemietet. Am 11. August 1978 wurde der von der Mutter mittlerweile als vermisst gemeldete Sohn im Basler Schriftenregister gestrichen. Doser hat sich gemäss polizeilichen Erkenntnissen Ende 1977 spurlos aus der Schweiz verabschiedet. Fest steht nur, dass sich der weltweit Gesuchte rund ein Jahr vor dem blutigen Geschehen in Seewen einen neuen Pass ausstellen liess. Vor einem halben Jahr wurde «20 Minuten» bezüglich seiner Person im Stadtarchiv Olten fündig: Doser war unehelich geboren worden, hat aber seinen Vater gekannt und trug anfänglich den Ledignamen Schrögengauer seiner deutschen Mutter.
Nachdem Arnold Doser die Vaterschaft anerkannt hatte, nahm der Sohn seinen Namen an und erhielt gleichzeitig die Schweizer Staatsbürgerschaft. Er war ein introvertierter, wortkarger Einzelgänger. So erlebte ihn auch sein Schul- und Konfirmationskollege Max R.* damals in Olten und auch später in der gemeinsam absolvierten Rekrutenschule: «Carl war nie hilfsbereit. Seine einzige ganz grosse Leidenschaft war das Schiessen, die er 1967 in der Flab-RS 232 bei der Flugabwehr in Payerne voll ausleben durfte.»
14 Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist von 30 Jahren ist der Fall Seewen offiziell abgeschlossen. Dennoch gehört er jedes Jahr zur Pfingstzeit immer noch zu den Medienthemen. Nicht erst seit seiner Pensionierung befasst sich auch der Diplomingenieur und Fachbuchautor Jacques Nordmann (73) akribisch mit dem ungelösten Fall. Vor einem Jahr veröffentlichte er die Erkenntnisse seiner Recherchen in Buchform: «Das Motiv für den Mordfall von Seewen».
Bezüglich der Tatwaffe, so Nordmann, habe diese kaum etwas mit einer klassischen Winchester gemeinsam. Nach genauer wissenschaftlicher Abklärung sind mit der in Olten aufgefundenen Replika Marke Uberti, Seriennummer 4387, alle 13 Schüsse abgegeben worden. Die Nummer war beim Fundstück nicht mehr vorhanden, weil sie mit dem abgesägten Laufteil entfernt worden war. Fachleute beurteilten das Fundstück als nur mässig präzis. Deshalb kann laut Nordmanns Ermittlungen nur ein intensiv und regelmässig mit der Waffe schiessender Täter so treffsicher vor dem «Waldeggli» geschossen haben: 13 auf den Kopf gezielte Schüsse! Nach bereits sechs Schuss musste wegen der Kürzung des Laufes nachgeladen werden. Weil der Schaft fehlte, konnte die Mordwaffe nicht an der Schulter abgestützt werden.
Alle Opfer wurden ausserhalb der Waldhütte erschossen und später in oder vor die Hütte gezerrt. Der Mörder muss von einer erschreckenden Gemütskälte durchdrungen gewesen sein. Das festgestellte Szenario lässt auch vermuten, dass er möglicherweise von einem Helfer assistiert wurde. Auch heute, nach 44 Jahren, tappt man bezüglich Mordmotiv noch immer im Dunkeln. Nicht nur, weil die Fahnder nie ein Täterprofil erstellen liessen.
Der Ex-Polizist beim Polizeikorps Basel und heutige Unternehmer Urs Schüpbach hat bereits am 9.November 1996, nach den Medienberichten über «die sensationelle Entdeckung der Tatwaffe», in einem Leserbrief an die «Basler Zeitung» (12 Tage nach der Medienkonferenz in Solothurn) klar und deutlich auf die Unzulänglichkeiten der Solothurner Ermittlungsarbeit hingewiesen: «Als ehemaliger Polizist schäme ich mich über diese Mordaufklärung durch ein unfähiges Polizeikommando Solothurn. … Was passiert in der Schweiz bei einem fünffachen Mord? Kantonspolizisten werden mit der Aufklärung beauftragt. Bei jedem kleinen Sprengstoffanschlag wird die Bundespolizei beigezogen! Wenn die Kantonspolizei Solothurn nicht fähig ist, ein Konzept von 2800 Winchester zu erstellen, so müssten die verantwortlichen Offiziere Rechtshilfe aus professionellen Kriminalabteilungen beiziehen. Hauptverdächtigt sind alle Besitzer von Winchester-Repetiergeräten, die ihre Waffen nicht vorzeigen können. … Jahrzehntelang mussten zahlreiche Leute unter falschen Verdächtigungen leiden, weil das Polizeikommando Solothurn seine Verantwortung nicht wahrnahm.»
Zwei Mal befragt
Hier die haarsträubenden Fakten, die am Medienanlass bekannt wurden und den Ex-Polizisten zu seiner niederschmetternden Darstellung veranlasste. Nachträglich vom jetzigen Polizeikommandanten Thomas Zuber in amtlicher Kürze bestätigt: Doser Carl wurde am 13. Juli 1976 erstmals und am 18. August 1976 ein zweites Mal befragt. Ohne Folgen, wie man mittlerweile weiss. Andere Personen wurden aus «dünneren» Haftüberprüfungsgründen bis zur endgültigen Abklärung in Haft gesetzt. Doser wiederum nach seiner Erklärung, er besitze seine Winchester nicht mehr. Er habe sie an einem Flohmarkt verkauft!
Offenbar haben sich die Vorgänger des heutigen Kommandanten mit nachweislich verlogenen Erklärungen Dosers zufriedengegeben: «Er war mit der Familie Siegrist nicht in Verbindung zu bringen», so die dürftige Erklärung.
Carl Doser, wenn er noch lebt, könnte sich mit seinen jetzt 77 Jahren unbekümmert und behördlich unbehelligt durch die Gegend bewegen. Ein unerträglicher Gedanke, der nach Kapitalverbrechen stets zur vielfach gestellten Frage führt: Warum gibt es in der Schweiz überhaupt eine Verjährung bei Mord?
Wohl oder übel müssen sich das Ehepaar Siegrist und andere Betroffene damit abfinden, dass sie niemals erfahren werden, warum ihre Eltern und Verwandten heute Freitag vor 44 Jahren so brutal aus dem Leben gerissen wurden.
* Namen geändert
Zum Autor
vs. Der Basler Journalist Willi Erzberger (87) über sich: Bereits bei der «National-Zeitung» (NZ) entwickelte ich mich nach dem Einstieg über das Sportressort zum Lokalreporter mit grossem Beziehungsnetz. Spezialgebiet: Unfälle und Verbrechen. Ich erwarb auf eigene Kosten einen der neuen, teuren Funkempfänger. Am besagten Pfingstsonntag hörte ich die beiden ersten Funksprüche über die Vorgänge in Seewen ab. Bereits im Begriff, mich mit meiner Familie Richtung Schrebergarten meiner Schwiegereltern davonzumachen, hörte ich – noch unter der Haustür – die Zweitmeldung: «Mehrere Tote».
Ich machte mich auf und davon und die Familie sah mich für Wochen nur noch selten, weil ich intensiv mit dem Fall Seewen befasst war, der mich über Jahre nie mehr losliess.
Ich war damals der erste Journalist vor Ort. Eine Stunde später tauchte «Blick»- Reporter Walter Bösiger (bereits verstorben) auf und regte sich furchtbar auf, weil schon ein anderer Berufskollege da war. Man muss sich vorstellen, dass es damals einiges länger dauerte, bis sich Nachrichten verbreiteten. Nach dem ersten Augenschein raste ich ins Dorf und wollte in der «Sonne» ans Telefon. Das war nicht möglich, weil die Beiz von der Polizei bereits beschlagnahmt war. Ich rannte an das Dorfende, zur einzigen Telefonkabine. Der diensthabende Chef bei der Zeitung – damals Martin Hicklin – bot Fotograf Hans Bertolf (verstorben 1976) auf. Damals mussten die Bilder noch im Labor entwickelt werden. Die NZ-Montagsausgabe kam als «NZ am Sonntagabend» bereits nach 18 Uhr in den Strassenverkauf. Auf der Frontseite der Nummer 175 im 134. Jahrgang wurde mein auf einer Hermes-Baby getippter Erstbericht veröffentlicht. Das waren noch Zeiten …
Zu ergänzen wäre, dass Willi Erzberger überdies ein bekannter Schweizer Radsportjournalist war und unter anderem unzählige Male als Reporter die Tour de France begleitete. Erzberger war weit über seine Pensionierung bei der «Basler Zeitung» hinaus als Journalist für verschiedene Medien (unter anderem für die «Gundeldinger Zeitung» oder auch für «Telebasel») tätig. Er ist häufig im Oberbaselbiet auf Wanderungen anzutreffen.